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HAYWIRE (USA 2011)

von Andreas Günther

Original Titel. HAYWIRE
Laufzeit in Minuten. 93

Regie. STEVEN SODERBERGH
Drehbuch. LEM DOBBS
Musik. DAVID HOLMES
Kamera. PETER ANDREWS (STEVEN SODERBERGH)
Schnitt. MARY ANN BERNARD (STEVEN SODERBERGH)
Darsteller. GINA CARANO. EWAN MCGREGOR. MICHAEL FASSBENDER. MICHAEL DOUGLAS u.a.

Review Datum. 2012-03-06
Kinostart Deutschland. 2012-03-08

Schneewittchen, die sieben Zwerge und ein Prinz.

Wie zu erwarten war, hat Steven Soderbergh mit HAYWIRE nicht einen bloßen Agententhriller gedreht. Das Genre wird dem Kinoversessenen zum Medium einer Reflexion über Geschlechterkonflikte zwischen Mythos und Märchen.

Zwei Männer sitzen, wenn man das im Hintergrund verschwimmende Dekor richtig deutet, zu vorgerückter Stunde bei einem Glas Whiskey in einem irischen Pub. "Ich habe noch nie eine Frau getötet", gesteht der eine. "Sie als Frau zu betrachten, wäre falsch", entgegnet der andere und blickt sein Gegenüber lange an. Der lässt das Gesagte auf sich wirken, scheint aber zu begreifen. Später wird er zwischen den Schenkeln der Frau, auf die er angesetzt ist, die Besinnung verlieren und kurz darauf durch eine Kugel in den Kopf auch sein Leben.

Voraus geht einer der vielen harten und vom diesbezüglichen Experten JJ Perry exakt choreographierten Kämpfe, die Steven Soderberghs Agententhriller Haywire durchgehend rhythmisieren. Soderbergh lässt sich dabei von der sehr männlichen Phantasie von der Frau, die haut, treiben. Das Kino kennt diesen Typus, seit Louis Feuillade in seinem Serial LES VAMPIRES von 1915 die legendäre Musidora als Irma Vemp einsetzte. Gegen die hollywoodüblichen abgemagerten Actricen und nicht zuletzt Angelina Jolie, die schon in WANTED etwas ältlich wirkte, führt Steven Soderbergh in HAYWIRE mit der Mixed Martial Arts -Meisterin Gina Carano eine scheinbar authentische Powerfrau ins Feld, die mit ihrer sportlich-muskulösen Statur die Geheimagentin Mallory Kane glaubwürdig verkörpert und gleichzeitig mit Rundungen, schwarzem Haar und schwarzen Augen, hohen Wangenknochen und sinnlich geschwungenem Mund die gängigen Schönheitsvorstellungen erfüllt. Carano, die einige Mühe hatte zu lernen, nicht wirklich zuzuschlagen, steckt als Mallory Kane viel ein und teilt noch mehr aus: Handkantenschläge, Fußtritte in die Geschlechtsteile, Faustschläge ins Gesicht. Die Pistole ist da nur eine selten genutzte, phantasielose Alternative.

Tonnen von Glas gehen dabei zu Bruch. Insbesondere, wenn Mallory mit dem undurchsichtigen Paul (Michael Fassbender) aneinander gerät. Immer wieder stößt Paul sie in Spiegel oder Vitrinen, die reflektieren können. Die Symbolik ist ebenso aufdringlich wie klar. Gerungen wird um das Bild, das die Geschlechter voneinander haben beziehungsweise sich voneinander machen: Was ist ein Mann, was ist eine Frau. Mallory sieht aus wie eine Frau, tötet aber wie ein Mann. Oder doch eher wie eine Frau, wenn man sieht, dass es ihr Schoß ist, der letztlich zur tödlichen Falle wird: eine Huldigung der vagina dentata, der männerverschlingenden Gottesanbeterin. Mit der Machtumkehrung zu ihren Gunsten bringt Mallory die Geschlechterordnung zum Einsturz wie die Spiegel, die von ihr zeugen. Entsprechend blickt die Kamera von Peter Andrews alias Steven Soderbergh himself über Scherbenkanten hinweg zu der triumphierenden Siegerin auf.

Gewiss eignet sich die Gewalttätigkeit von Agententhrillern sehr gut, um mit der Ambivalenz männlich-weiblich zu jonglieren. Bekanntlich war SALT ursprünglich für Tom Cruise konzipiert und musste angeblich kaum umgeschrieben werden, um mit Angelina Jolie in der Hauptrolle besetzt zu werden. Aber Soderbergh hat darüber hinaus ein paar technische und inszenatorische Tricks mehr in petto als ein braver Genrehandwerker wie Phillip Noyce, der bei SALT Regie führte. Nicht nur, dass Soderbergh in der Postproduction die Stimme von Gina Carano tiefer und rauer machte. In der allererster Szene von HAYWIRE, in der Mallory in einem Diner auf einen Kontaktmann wartet, präsentiert Soderbergh sie gleichzeitig als Mädchen vom Lande mit dunklem Geheimnis und als Mann aller Männer. Denn er lässt Carano spielen wie George Clooney. Das gleiche Schieflegen des Kopfes. Das gleiche sanfte, langsame Augenrollen von rechts nach links, von oben nach unten. Das gleiche vielsagende Ausweichen des Blicks. Das gleiche affektierte Räuspern, die gleiche Manier des Neuansetzens in der Diktion, das gleiche süffisante Lächeln.

Die Geschlechterrollen sind Soderbergh Mythos und Märchen, die es zu dekonstruieren gilt. Inklusive der Ellipsen, der Auslassungen in der Erzählung, die nach Soderberghscher Manier nachträglich ausgefüllt werden, ist das Drehbuch von Lem Dobbs konstruiert wie jenes antike Labyrinth, in dem sich Theseus und Ariadne tummeln. Der Regierungsbeamte Coblenz (Michael Douglas) fordert Mallory auf, ihm dabei zu helfen, das Gebäude der Intrige von Mallorys Arbeitgeber und ehemaligem Geliebten Kenneth (Ewan McGregor) Schicht für Schicht abzutragen, um herauszufinden, welch teuflischer Plan dahintersteckt. Mallory will nach dem Muster des antiken tragischen Helden das Gute tun und erreicht scheinbar das Schlechte: Eine Geisel, die Mallory in Barcelona befreit hat, wird ermordet aufgefunden und das Verbrechen ihr in die Schuhe geschoben.

Der Ausweg aus dem Schlamassel vollzieht sich als rückwärts abgewickeltes Märchen. Die engere Besetzungsliste des Films verzeichnet genau acht männliche und eine weibliche Hauptrolle. Macht rechnerisch Schneewittchen, sieben Zwerge und ein Prinz. Carano probiert alle weiblichen Rollen des Märchens aus, um sie ad absurdum zu führen. In Barcelona bindet sie sich das kleine Kopftuch um, mit dem sich in den Illustrierungen zu den Brüdern Grimm die Hexe kleidet. An der Seite von Paul (Michael Fassbender) darf Mallory auf einem edlen irischen Landsitz die Prinzessin mimen. Die Spiegel gehen zu Bruch und eröffnen eine adrogyne Phase. In Lederkluft und Ballonmütze schnüffelt Mallory in Schuppen und unter Gerümpel nach Leichen wie einst Emma Peel in MIT SCHIRM, CHARME UND MELONE. Als jungenhafter Junkie schlüpft sie durch Polizeikontrollen. Schließlich die letzte Mutation zur Kampfamazone mit Tarnfarben im Gesicht im Haus ihres Vaters in New Mexiko, eines Schriftstellers und Mythopoeten des Golfkriegs. Dort wird im Showdown die "Scheidung" vom ‚Prinzen' Kenneth faktisch vollzogen. Die Schauplätze verweisen auf filmische Bearbeitungen des Geschlechterkonflikts und der Geschlechterkrise: Barcelona auf das Werk von Pedro Almodovar, Irland auf John Fords THE QUIET MAN (1952), dessen Star John Wayne seinen weiblichen Co-Star Maureen O'Hara einen "great guy" nannte, und New Mexiko auf die Monsterfrauen der B-Movies, fiktive Kollateralmutationen infolge der Atombombentests in eben jener Gegend. In ähnliche Bezüge eingewoben sind Caranos männliche Kollegen: Michael Douglas durch EINE VERHÄNGNISVOLLE AFFÄRE (1987) und ENTHÜLLUNG (1994), Antonio Banderas durch seine Rollen bei Almodovar, Ewan McGregor durch EYE OF THE BEHOLDER(1999), Michael Fassbender durch EINE DUNKLE BEGIERDE und SHAME (beide 2011), Mathieu Kassowitz als Regisseur von GOTHIKA (2003).

Fragt sich nur, ob das breite Publikum bereit ist, solche selbstbezüglichen Spielereien mitzumachen und mitzudenken. Wenn nicht, könnte der Kinobesuch öde werden. Soderbergh legt seine Schauwerte in die Auslage, sagt aber im selben Atemzug: nicht verkäuflich. Die Kämpfe nutzen sich ab. Verfolgungsjagden im Auto und zu Fuß bleiben unangetastet, aber Schießen, Klettern und Rennen werden bis zur Abstraktion verdichtet, bis zur Behäbigkeit stilisiert. Bei volltönenender Bigband-Sound und Rhythmusgerassel von David Holmes werden Pistolenschüsse bisweilen auf ein comichaftes Blubbern gedämpft. Haywire verteidigt stolz jenen spröden Reiz, den Mallory zur Schau trägt, wenn sie jedes Kompliment konsequent ignoriert und Bewunderer ihrer Schönheit mit Herablassung und Rückzug bestraft. Bei soviel Distanz ist Haywire eher ein Film zum Träumen und Grübeln als zum Mitfiebern.











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