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SHAME (Großbritannien 2011)

von David Leuenberger

Original Titel. SHAME
Laufzeit in Minuten. 100

Regie. STEVE MCQUEEN
Drehbuch. STEVE MCQUEEN . ABI MORGAN
Musik. HARRY ESCOTT
Kamera. SEAN BOBBITT
Schnitt. JOE WALKER
Darsteller. MICHAEL FASSBENDER . CAREY MULLIGAN . JAMES BADGE DALE . NICOLE BEHARIE u.a.

Review Datum. 2012-02-18
Kinostart Deutschland. 2012-03-01

Wer schon immer mal wissen wollte, wie wohl eine Verfilmung des Roxy-Music-Songs "In Every Dream Home A Heartache" aussehen könnte, dürfte möglicherweise bei SHAME fündig werden. Wie Bryan Ferrys Erzähler ist auch der vom großartigen Michael Fassbender verkörperte Brandon ein Mann, der zwar materiell alles besitzt, jedoch zugleich von der modernen materialistischen Welt emotional ausgelaugt ist. Seinen "Herzschmerz" bekämpft er jedoch nicht mit einer bizarren fetischistischen Liebe zu einer aufblasbaren Sexpuppe, sondern mit Sexsucht. Klingt konventioneller, als der Film tatsächlich ist. In seiner teuren, schicken und minimalistisch eingerichteten Wohnung in Downtown Manhattan versteckt Brandon stapelweise Pornohefte. Sein Internetanschluss dient sowohl dort wie auch an seinem Arbeitsplatz fast nur der sensorischen Unterstützung bei der Selbstbefriedigung. Als eleganter und erfolgreicher Mittdreißiger mit Charme, Sex-Appeal und Geschmack für gute Lokalitäten kann er seine Sexbesessenheit aber auch mit realen Frauen ausleben. Nicht, dass diesen Realbegegnungen der masturbatorische Charakter in irgendeiner Weise fehlen würde, ganz im Gegenteil.

Und genau dies ist Brandons Problem. Er ist zutiefst einsam, und absolut unfähig, mit anderen Menschen emotional verbindlich zu kommunizieren. Und anscheinend fehlt ihm diese menschliche Verbindung auch nicht. Zumindest nicht, bis seine emotional labile Schwester Sissy (Carey Mulligan) ihn unerwartet besucht. Ihre extreme Emotionalität löst bei Brandon zunächst Widerwillen aus, dann jedoch auch den Wunsch, sich selbst zu bessern. So bemüht er sich tatsächlich, seine Arbeitskollegin Marianne (Nicole Beharie) zu daten und näher kennen zu lernen, ohne sie sofort ins Bett zerren zu wollen. Sein mäßiger Erfolg, aber auch der Beginn einer Affäre zwischen seiner Schwester und seinem ekligen Vorgesetzten David (James Badge Dale) offenbart Brandon, dass ihm doch nicht alles im Leben völlig egal ist, und zwar auf unglaublich schmerzhafte Weise. Doch wie jeder Süchtige hat auch er sein Mittelchen, um Schmerzen zu lindern.

SHAME ist ganz und gar Michael Fassbenders Film. Er ist praktisch ununterbrochen auf der Leinwand zu sehen. Sean Bobbitts brillante Kamera folgt ihm überall (sogar bis auf die Toilette). Eigentlich liefert Fassbender eine Oscar-verdächtige Rolle, aber NC-17-Filme haben es nunmal in den USA etwas schwer. Dass SHAME ein so hochkonzentriertes Psychogramm einer Person ist, stellt sowohl seine Stärke wie auch seine Schwäche dar. Die anderen Charaktere sind praktisch nur Staffierung in einem zu einer Art Brandonville stilisierten New York. Dies wird besonders bei der Marianne-Figur deutlich, die tatsächlich ausschließlich der Vorantreibung von Brandons seelischen Konflikten dient. Schauspielerisch reichen die drei Nebendarsteller zu keinem Zeitpunkt an Fassbender heran. Besonders Carey Mulligan irritiert während ihrer ersten Szenen durch Overacting.

Eine ganz besondere Stärke entwickelt SHAME hingegen, wenn er sich in langen, schnittlosen Sequenzen seinen Figuren - oder besser gesagt hauptsächlich Brandon - ganz und gar hingibt. So entwickelt sich das Gespräch zwischen Brandon und Marianne während ihres ersten Dates in einem Restaurant erst stockend von einem peinlich verklemmten Austausch von Belanglosigkeiten hin zu einem wirklichen Gespräch über relevante Dinge des Lebens. Diese sehr, sehr lange, aber fesselnde Sequenz wird dabei immer wieder ironisch vom einem ungelenken Kellner gebrochen. Als hingegen Sissy mit David anfängt, in Brandons Wohnung rumzumachen, löst dieser seine emotionale Spannung (und zeitgleich die des Zuschauers), indem er einfach joggen geht: eine inhaltlich so banale wie formal spektakuläre Plansequenz, die Brandon über Hunderte und Hunderte Meter auf dem Bürgersteig New Yorks/Brandonvilles folgt und erst an der roten Fußgängerampel halt macht, um Luft zu holen. Ein großartiger Kinomoment. Auch die Einführung Brandons als Getriebener seiner Besessenheit in den ersten Minuten des Films ist verblüffend in der Ökonomie ihrer Mittel. Keinerlei Dialoge, einige Schnitte, ein Schauspieler dessen Augen alles verraten, minimalistische wenngleich laute Musik und ein kleines Tickgeräusch reichen aus, um mehr Spannung aufzubauen als so mancher Streifen in zwei Stunden. Angesichts der Anhäufung großartiger Momente erscheint jedoch gerade das Ende leider auf etwas zu gezwungene Weise "offen" und inkonsequent.

SHAME wird hoffentlich nicht wegen seines - Zitat MPAA - "explicit sexual content" in Erinnerung bleiben, der schließlich nicht Zweck, sondern Mittel des Films ist. Steve McQueens Film unterscheidet sich hier wohltuend von solchen Machwerken und Schlafmittelsurrogaten à la INTIMACY, bei denen mangels emotionaler Substanz tatsächlich nur der Blowjob in Erinnerung bleiben kann. Theoretisch könnte es in SHAME auch um einen Alkoholiker, einen Spielsüchtigen, oder einen zwangsneurotischen Sozialphobiker gehen, aber die Sexbesessenheit bietet filmisch natürlich die beste Möglichkeit, um den Kontrast zwischen extremer Körperlichkeit und emotionaler Entfremdung aufzuzeigen und einen seelisch verkrüppelten Menschen in seinem ganzen Schmerz zu portraitieren. "Oh oh heartache, dream home heartache..."











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