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UNENDLICHE TIEFEN

Reportage.
6. Around The World In 14 Films
von Björn Lahrmann

6. Around The World In 14 Films

Bertrand Bonello. Hong Sang-soo. Lynne Ramsay. Lav Diaz. Sie alle haben dreierlei gemeinsam: Ihre jüngsten Werke zählten kinoblogosphärisch in den vergangenen Monate zu den heißeren Eisen, haben allesamt noch keinen deutschen Starttermin - und waren beim sechsten Around The World In 14 Films nicht vertreten. "Die besten Filme aus Cannes, Locarno, Venedig und San Sebastian" wirbt selbstbewusst die Website des Independent-Festivals, derweil sich bei der ersten Programmlektüre ein Stones-Ohrwurm einschleicht: You Can't Always Get What You Want.

Ich hadere da mit mir: Einerseits will ich die noble Trüffelschweinmentalität, aus dem ohnehin Partikularen auch wirklich das Allerpartikulärste herauszupflücken, von ganzem Herzen begrüßen. Ein Hoch auf Filme, von denen niemand spricht! Andererseits habe ich bei Ankündigungstexten wie diesen hier schon keinen Bock mehr, mich im grieseligen Berliner November überhaupt zum Babylon zu quälen: "Ein hinreißendes Plädoyer für Völkerverständigung... ein hochpolitischer Film Noir, vorangetrieben von schneidender Lyrik... eine sensibel erzählte Studie menschlicher Heimatlosigkeit... ein stummer Schrei nach Leben." Sei unvoreingenommen, raunt der ewige Idealist auf meiner linken Schulter, auch hinter Kulturzeit-Jargon verbergen sich dann und wann cinephile Schätze. Alles Scheiße, brätscht das trotzige Kind auf der rechten dazwischen, Monte Hellmans Neuer ist über ein Jahr alt und du hast ihn immer noch nicht gesehen. Unfair!

Abseits persönlicher Präferenzen (und dem Wunsch, sich zum passiv verfolgten Onlinediskurs endlich mal selbst positionieren zu können) gibt es durchaus noch triftigere Gründe zum Maulen. Hochselektive Kleinfestivals wie das Around The World sollten im Idealfall Filmen eine Plattform bieten, die im engeren Einzugsgebiet unterrepräsentiert bis unsichtbar sind - Amnesty International für die dritte Kinowelt sozusagen, zu der Deutschland ja unzweifelhaft gehört. Stattdessen: Aufgewärmtes. Shion Sonos freudloser Kleinbürger-Gewaltexzess COLD FISH, mit dessen selbstherrlicher Kaltblütigkeit ich wenig anfangen konnte, lief bereits beim Fantasy Filmfest und ist längst auf DVD draußen; ebenso die tamilische Mythenkitschpomposität RAAVANAN, deren endlos auf der Stelle tretender Wald-und-Lagunenschwulst auf der großen Leinwand gleich doppelt nach Lancôme aussieht.

Gianfranco Rosis Ein-Zimmer-Monologdoku EL SICARIO kam sogar schon im Fernsehen und ist dort auch ganz gut aufgehoben - obwohl der zentrale Clou ein visueller ist: Mit Stift und Zeichenblock illustriert ein vermummter mexikanischer Kartellkiller seine Lebensgeschichte, faszinierende Echtzeit-Tafelbilder direkt aus dem Unterbewussten, die abartig kreative Foltermethoden mit Strichmännchen, Pfeilen und Rechtecken bebildern. Schauriger als alle Mordstatistiken aus Juárez ist freilich die mit tränenerstickter Stimme nacherzählte religiöse Ekstase, die den jovialen Massenmörder nach anfänglichem Schwulitätsverdacht von seinem bösen Los errettet hat.

Gleichfalls ungefiltert aus dem Hypothalamus drischt Álex de la Iglesias MAD CIRCUS - eine Woche vorm regulären Kinostart und damit kaum festivalexklusiv - aufs wehrlose Publikum ein. Was im Interview mit dem Regisseur nach einer intimen Nabelschau aus schuldgefühliger Franquismustherapie und Potenzneurose klingt, entpuppt sich als schrill-rabaukiger Live-Action-Cartoon, bei dem Subtilitätsverächter ganz auf ihre Kosten kommen: Wenn Clowns im Ornat sich gegenseitig metzeln, um mit de la Iglesias Lebenspartnerin Carolina Bang zu schlafen, macht's allegorisch wie psychologisch betäubend laut 'klick'. Eine Oase inmitten des enervierenden Horrordramödiengetöses ist eine Sequenz, in der sich der dicke Clown nackt in einer Waldhöhle verkriecht und fortan von röhrend durch ein Loch in der Decke plumpsenden Hirschen lebt. Kaspar Hauser im Rohkost-Schlaraffenland: Ich jedenfalls musste sehr lachen.

Das Lachen kaum verkneifen konnte ich mir hingegen beim sogenannten "Spezial Deutschland", einer Diplomarbeit von der HFF Konrad Wolf, der ein böser Zufall geschickt in die Hände spielt: Dank der Zwickauer Zelle ist David Wnendts Neonazibrautporträt KRIEGERIN plötzlich Film der Stunde (und nicht, wie Bert Rebhandl auf taz.de darlegt, eine Randerscheinung). Vollster Körpereinsatz der beiden Hauptdarstellerinnen Alina Levshin und Jella Haase - die eine ein Bündel aus Hass, deren barmherzig-xenophile Seite von einem afghanischen Flüchtlingsjungen getriggert wird (kein Scheiß), die andere eine Teenagerin aus spießig-sadistischem Elternhaus, die ihr Heil im "Sieg Heil!" sucht - kann nicht verdecken, dass Wnendt eine ähnliche Vorstellung des Milieus pflegt wie Lemmy Kilmister: Hauptsache Memorabilia. Pluspunkte für den Versuch, die Anziehungskraft eines Lebens in rasender Dummheit weniger ideologisch als fetischistisch-aggroerotisch zu begründen; Minuspunkte für die superdurchschnittliche Middlebrow-Ästhetik, die jeden Ansatz von roher Dringlichkeit in melancholischen Gitarrenakkorden ertränkt.

Überhaupt ist Mittelmaß ja der Feind, gegen den man sich auf Festivals am häufigsten zur Wehr setzen muss. Wenn man nicht höllisch aufpasst, wird man davon sogar um den Finger gewickelt! Joachim Triers OSLO, 31. AUGUST beispielsweise - ein generationsgerechtes Update von Louis Malles DAS IRRLICHT - hat mich bei aller Bescheidenheit derart in Beschlag genommen, dass mir die Verwandtschaft zum großen Original peinlicherweise erst beim Nachspann aufgegangen ist. Als lebensmüder Ex-Junkie, der einen Tag lang alte Bekanntschaften (und ihre gescheiterten Ideale) abklappert, trifft Anders Danielsen Lie mühelos den rechten Ton zwischen stocknüchterner Verbitterung und Galgenzynismus; dazu ein schön giftiges Drehbuch, das perfekt aufs intendierte Publikum zugeschnitten ist - Knüffe gegen die lächerliche Liebe des Feuilletons zu HBO-Serien inklusive.

Am negativen Ende des Mäßigkeitsspektrums befindet sich der kanadische Beitrag SMALL TOWN MURDER SONGS, eine an Egalheit nicht zu überbietende Schuld-und-Sühne-Petitesse, die wegen Peter Stormare allenthalben mit FARGO verglichen wird. Nichts läge ferner: Statt Coen'scher Perfidie herrscht schleppende Trauerkloßigkeit. Stomare spielt einen mundfaulen Dorfbullen mit Wutproblemen, der in seiner Mennonitengemeinde (aah, Kolorit!) einen restlos uninteressanten Mordfall zu lösen hat. Mit Müh und Not und eingeblendeten Bibelzitaten wird die Laufzeit auf 75 Minuten gestreckt. Hin und wieder stört das Gospelgebrüll eines drittklassigen Tom-Waits-Imitators beim Einschlafen. Zwar ist dieser typische Fall einer "Charakterstudie", die glaubt, statt Ideen nur einen bedröppelt guckenden "Charakterdarsteller" präsentieren zu müssen, nicht unbedingt per se ärgerlich; in einer repräsentativ gemeinten Weltkino-Auslese hat sowas aber wirklich nullkommanix verloren.

Kommen wir lieber zu den drei, vier ernsthaft konkurrenzfähigen Filmen - drei oder vier, weil ich nicht so genau weiß, was und wie viel ich von Lee Chang-dongs POETRY halten soll. Lee gehört derzeit fraglos zu den souveränsten Melodramatikern, und die stille Passion einer alten Dame, die Schweigegeld für eine Schandtat ihres Enkels auftreiben muss, könnte geradezu als Ein-Film-Werkschau durchgehen. Wie schon beim tollen Vorgänger SECRET SUNSHINE vereint das Drehbuch disparateste Momente - der Hauptplot wird u.a. von einem in seiner Provinzialität perfekt eingefangenen Lyrikseminar und einer Alzheimerdiagnose flankiert -, deren Beziehung zueinander bis zum Schluss vage bleibt. Wo Lee als Autor jedoch erfreulich undiszipliniert verfährt, bedient er sich als Regisseur eines durchweg sauberen, sicheren Arthousestils, dem beachtliche Bildeinfälle nahezu vollständig abgehen. Auf Dauer (und dauern tun koreanische Filme ja gern) bringt die fad-routinierte Oberfläche das drunter verborgene Ungestüm allzu fotogen zum Erstarren.

Gerade umgekehrt verhält es sich mit ONCE UPON A TIME IN ANATOLIA, ein Film, von dem ich - prognostiziere ich mal - nichts behalten werde als Mondschein, Wind und einen Apfel, der in einem neugierigen Trackingshot ein Bächlein entlangrollt. Nuri Bilge Ceylans lange Reise durch die pastorale Nacht, die in Sachen auteuristischer Geschlossenheit festivalweit ihresgleichen suchte, ist enorm reich an hypersinnlichen (und wie der Regisseur beim Q&A bestätigt: handwerklich mühsamst erzeugten) Naturreizen, entfaltet aber, sobald man sein Augenmerk aufs Handlungsmäßige verlagert, eine Aura bleierner Langeweile. Ein Autokonvoi sucht eine vergrabene Leiche, wortkarge Männer, die fast ausschließlich bei ihren offiziellen Titeln genannt werden: Der Staatsanwalt, der Arzt, der Kommissar etc. Eine bürokratische Commedia dell'arte, die garantiert Erhellendes zum Verhältnis des Einzelnen zur Obrigkeit, der Menschen zu ihren Rollen preisgäbe, brächte man nur das nötige Interesse auf.

Ähnliche Fragen verhandelt spannender der Iraner Mohammad Rasoulof in GOODBYE, unter der Hand gedreht im Vorfeld einer Gefängnisstrafe und außer Landes geschmuggelt (das Märtyrerpathos, mit dem der vollends unmärtyrerhafte Regisseur beim Festival hofiert wurde, kann man sich vorstellen). Eine schwangere Frau möchte ausreisen und kann nicht, das ist der simple Plot. Ausformuliert wird er als Aneinanderreihung enttäuschender Behördengänge, die durch die klandestine Schwammigkeit, mit der die Beamten agieren und argumentieren, science-fiction-haft dystopische Züge gewinnt; eine Szene, in der zwei Regierungstechniker ungefragt in die Wohnung dringen und den Satellitenreceiver beschlagnahmen, erinnert von Ferne an den spinnerten DeNiro-Subplot aus Terry Gilliams BRAZIL. Digital eingegraute Porträtaufnahmen der Frau, rauchend mit blauem Kopftuch und Sonnenbrille vor der Teheraner Einflugschneise, könnten hingegen einem Sirk-Weepie entstammen, dem man Licht und Emotionen abgesaugt hat. Im Irrealis der Form vermittelt GOODYBE so ein deutlich schärferes Abbild der Zustände, als es der kühlköpfige Realis seiner Erzählung je könnte.

Zum Abschluss gab es noch einen Toten zu betrauern, den die wenigsten sonderlich gut gekannt haben dürften. In seinem hochproduktiven Leben, das vergangenen August zu Ende ging, ist der Chilene Raúl Ruiz weit herumgekommen, around the world in 100 films und mehr, realisiert in aller Herren Länder und Sprachen, letzter Hafen: Portugal. MYSTERIES OF LISBON ist das erstrebenswerteste aller Vermächtnisse, ein stupendes Universalkunst- und Altmeisterwerk, auf viereinhalb randvolle Stunden zusammengerafft aus einem Fernseh-Sechsteiler, den in Gänze zu sehen ich kaum erwarten kann.
Um den elternlosen João, der gemeinsam mit einem väterlichen Priester auf genealogische Spurensuche geht, ranken und türmen und kreuzen und falten sich Geschichten von Liebe und Tod, schwerblütige Intrigen und Maskenspiele in Adelssalons, deren dünkelhafte Balance vom Hintergrundrauschen der Napoleonischen Kriege immer heftiger gestört wird. Wie durch lebendige Gemälde schwebt Ruiz' bewegungssüchtige Kamera in Höfen und feinpatinierten Prachtzimmern umher, taucht durch Wände, lugt hinter Türritzen und Vorhangspalte auf sich auf- und ablösende Identitäten und Contenancen. Die titelgebenden Geheimnisse, die zuerst über Jahre sorgsam gepflegt, dann schicksalsentscheidend gelüftet werden, fungieren dabei als Lebenselixier des Films und seiner Figuren.

Gelegentlich versuche ich mir die frustrierenden Seiten meine Kinoliebe von außen vorzustellen. Die epiphanielosen Durststrecken, das unsinnige Durchhalten und Hoffen auf galvanische Momente, obwohl nach 10 Minuten wieder klar ist: Wird nix. Warum tue ich mir das an? Das Kompendium an Genüssen, das MYSTERIES OF LISBON am letzten Festivaltag aufbot, ist die überzeugendste Antwort darauf. Bei Ruiz wird ausschweifend-novellistisches Erzählen zum Lustprinzip, das in seiner kinematischen Form Theater-, Museums- und Sinfoniebesuch (Musik, himmlisch: Jorge Arriagada) zugleich ersetzt. Dafür begibt man sich schließlich immer wieder in die Welt aus Filmen: Um den einen zu finden, der eine ganz Welt für sich enthält. Oder mit den Stones gesprochen: If you try sometimes, you get what you need.

Mehr Informationen gibt's auf berlinbabylon14.net.




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