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Was in den USA ein Harmony Korine und in Frankreich ein Gaspar Noé, das ist in Japan eben Sono Sion. Ein cineastisches Enfant terrible, das sein eigenes Ding jenseits jeglicher Konventionen durchzieht. In EXTE ließ er Haare zu Mördern werden, in LOVE EXPOSURE inszenierte er ein vierstündiges Opus und vergangenes Jahr lieferte er mit WHY DON'T YOU PLAY IN HELL? einen wahnwitzigen Martial-Arts-Metafilm ab, dessen in eine brillante Absurdität - oder eine absurde Brillanz - abgleitendes Finale einem Mann wie Quentin Tarantino die Schamesröte ins Gesicht zaubern muss. Nun also TOKYO TRIBE, eine Adaption von Santa Inoues Seinen-Manga, der von 1997 bis 2005 publiziert wurde und sich an 18- bis 30-jährige Männer orientiert. Ein Gangster-HipHop-Musical, wie es die Welt noch nicht gesehen hat.
Die Handlung des Films spielt im Großraum Tokyo, der territorial verschiedenen Gangs zugeschrieben wird. Von den wütenden Wu-Ronz rund um Anführer Mera (Ryôhei Suzuki), der für Unterwelt-Boss Buppa (Riki Takeuchi) arbeitet, bis hin zu den gechillteren Musashinos um deren DJ und "Kronprinz" Kai (Young Dais). "This is all-out war", macht Mera zu Beginn des Films einer jungen Polizisten klar, die er zuvor entkleidet hat und nun mit einem Messer bedroht. Verletzt eine Gang die Gebietsrechte einer anderen, wird sie selbst verletzt. "That's the Tokyo Tribe Way." Und Show, der streckenweise als Erzählfigur aus dem Musashino-Lager fungiert, macht sogleich deutlich: Wer nicht bereit ist zu sterben, kann nicht überleben. Was die nächsten knapp zwei Stunden folgt, ist daraufhin "a one night story".
Was womöglich halbwegs ernst klingt, ist natürlich von Sono völlig befreit inszeniert. Die einzelnen Figuren der insgesamt 23 Tokyo Tribes, die wir kennenlernen, sind allesamt Karikaturen und in ihrer Darstellung völlig überzeichnet. Eben klassische Sono-Sion-Charaktere. Allen voran Buppa, ein narzisstischer und größenwahnsinniger Mafiosi, gegen den jeder Bond-Bösewicht geradezu geerdet daherkommt. TOKYO TRIBE präsentiert dem Zuschauer eine Welt mit beatboxenden Kellnerinnen, Schlössern, die sich per Breakdance knacken lassen, und Politikern, die der Literal Demagogic Party (sic!) entstammen. Sono erschafft mal wieder einen Film, in dem der Wahnsinn Blüte trägt - nicht zuletzt, weil er gerade in seiner ersten Hälfte zum größten Teil als japanisch-gerapptes HipHop-Musical daherkommt.
Die Rap-Lyrics, so viel muss man eingestehen, sind dabei qualitativ eher auf dem Niveau pseudocooler Kleinstadt-Rapper auf YouTube statt wie aus 8 MILE anzumuten. Ernst nehmen kann man sie nicht und gerade zu Beginn wirkt das doch etwas befremdlich. Mit der Zeit gewöhnt man sich jedoch daran - auch, weil der zugrunde liegende Beat weitaus pulsierender und lebendiger ist als die Textzeilen selbst. Von seinem Aufbau her ähnelt TOKYO TRIBE durchaus WHY DON'T YOU PLAY IN HELL?, wie dieser packt einen der Film erst langsam - ab einem gewissen Punkt lässt er einen dafür dann aber auch nicht mehr los. Visuell hofiert Sono dieses Mal unter anderem Filmen wie ESCAPE FROM NEW YORK und A CLOCKWORK ORANGE, ist aber dennoch durch und durch seine eigene optische Bestie.
Wirklich auf Augenhöhe mit WHY DON'T YOU PLAY IN HELL? ist sein jüngstes Werk aber leider nicht. Wo Ersterer zumindest halbwegs seine Figuren zum Leben erweckte, ist das Handlungs- und Charaktergefüge hier nun zu komplex. Die eingeführten Gangs und ihre Mitglieder spielen im Verlauf keine größere Rolle mehr, ähnlich wie der Manga läuft alles auf den Konflikt Mera-Kai heraus, nachdem die Wu-Ronz den Musashino-Anführer Terra ermordet haben. Auch ein Subplot um die junge Sunmi/Erika (Nana Seino), die eine besondere Rolle - und zugleich doch auch nicht - spielt, will nicht recht zünden. Genauso wie Show, die erste Figur der wir begegnen, nie richtig am Geschehen teilnimmt. Womöglich haderte Sono doch damit, einen über sieben Jahre laufendem Manga in einem Zwei-Stunden-Film gerecht zu werden.
In Japan selbst war das Resultat vergangenes Jahr auch nicht sonderlich erfolgreich, spielte umgerechnet keine 1,5 Millionen US-Dollar ein und landete in den Jahrescharts hinter Woody Allens BLUE JASMINE und Trash-Filmen wie POMPEII und DRACULA UNTOLD. Unterhaltsam ist TOKYO TRIBE wie eigentlich jeder Film von Sono Sion allemal - wenn auch vielleicht zuvorderst für seine Fans gedacht. Die bekommen beim Anblick von Sonos jüngstem visuell-narrativen Wahnwitz vielleicht feuchte Träume, wie eine Zusammenarbeit zwischen dem Japaner und Darstellern wie Nicolas Cage und James Franco aussehen könnte. Womöglich wie das cineastische Paradies. Bis dahin bewahrheitet sich für Sonos Filmografie das, was seine Film-Gang Nerimuthafuckaz zum Motto hat: Swallow this or get swallowed.
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