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BLUE JASMINE (USA 2013)

von Sebastian Moitzheim

Original Titel. BLUE JASMINE
Laufzeit in Minuten. 98

Regie. WOODY ALLEN
Drehbuch. WOODY ALLEN
Musik. CHRISTOPHER LENNERTZ
Kamera. JAVIER AGUIRRESAROBE
Schnitt. ALISA LEPSELTER
Darsteller. CATE BLANCHETT . SALLY HAWKINS . ANDREW DICE CLAY . BOBBY CANNAVALE u.a.

Review Datum. 2013-11-07
Kinostart Deutschland. 2013-11-07

Woody Allens track record in Bezug auf weibliche Charaktere ist wechselhaft, aber zumindest hat er einen. Wenn er will, schreibt Allen komplexe, starke weibliche Figuren, die oft Altersschichten repräsentieren, die ansonsten im aktuellen Kino selten zu sehen sind. Wenn er nicht will - und es ist offensichtlich mehr eine Frage des Wollens als des Könnens, weniger auf Sexismus als auf bloße Faulheit zurückzuführen - nimmt er eine unangenehm väterliche, herablassende Position gegenüber Frauen ein oder schreibt Figuren, die sich ausschließlich über ihre männlichen Partner definieren und/oder lediglich die Funktion im Plot erfüllen, diesen das Leben zur Hölle zu machen. Böse gesagt hat man gelegentlich das Gefühl, dass Allen seine diversen alter egos dazu nutzt, seine eigenen, nicht unproblematischen Beziehungen zu Frauen zu rechtfertigen.

Cate Blanchetts Titelfigur in Woody Allens neustem Film BLUE JASMINE ist, gerade mit Allens Geschichte in Blick auf reale und fiktive Frauen im Hinterkopf, einer der interessantesten weiblichen Charaktere seiner Karriere. Nachdem ihr Mann, ein reicher Investor (Alec Baldwin) wegen Betruges im Gefängnis landet und seinen Reichtum verliert, zieht Jasmine von ihrem luxuriösen Apartment in Park Slope, New York in die kleine Wohnung ihrer Schwester Ginger (Sally Hawkins) in San Francisco. Wie Blanche, die Antiheldin in Tenesse Williams' A STREETCAR NAMED DESIRE (die Blanchett bereits in einer umjubelten Bühnenproduktion verkörpert hat) sieht auch Jasmine die Lebenssituation ihrer Schwester als ein hartes Los, ihren eigenen Besuch in diesem ihr fremden, weil gewöhnlichen Milieu als temporär an und ebenso wie bei Blanche entpuppt sich diese Überzeugung auch für Jasmine mehr und mehr als Selbsttäuschung - oder, vielleicht besser, Selbstschutz, als der letzte Strohhalm, an den die psychisch labile Jasmine sich klammert, um keinen Nervenzusammenbruch zu erleiden.

Diese Konstellation könnte allzu leicht Stoff für eine simple Moral-Fabel sein: Die reiche, arrogante Jasmine, die nie wirklich für sich selbst sorgen musste, auf der einen, ihre Schwester, die bodenständige Ginger, glücklich in ihrem bescheidenen, aber selbsterarbeiteten Leben, auf der anderen Seite. Doch Allen identifiziert sich eindeutig mit seiner zweifelhaften Titelheldin und will, dass das Publikum es auch tut, was man nicht nur daran merkt, dass Jasmine ausgerechnet aus Allens geliebtem New York vertrieben wird und in San Francisco landet, einer Stadt, die Allen anscheinend nicht so kennt und verehrt, wie die anderen Locations seiner Filme - jedenfalls fehlen in BLUE JASMINE die üblichen Stadt-Panoramen und die Streifzüge der Kamera durch die Gassen und Winkel der Stadt (und so ziemlich jede Figur in Allens San Francisco spricht mit ausgeprägtem New Yorker Akzent). In einer gewissen Weise ist Jasmine auch der "Woody-Charakter” des Films, der stand-in für seinen Regisseur: Wie die klassischen Woody-Figuren ist Jasmine neurotisch, wenn auch über den Punkt hinaus, bis zu dem es quirky und charmant ist; sie inszeniert sich genauso gern als leicht prätentiöser Intellektueller und hat dieselben cleveren One-Liner für Menschen und Verhaltensweisen, die ihr missfallen (oder die sie einfach nicht versteht); sie erzählt sogar, wie einst Alvy Singer, im stream-of-consciousness ihre eigene Geschichte - nur, dass Allen ihr nicht zugesteht, dabei die vierte Wand zu durchbrechen, sodass ihre Monologe über den Moment, als ihr Mann sie damals zu Blue Moon im Sturm eroberte, eben nicht wie Kommunikation mit dem Publikum wirken, sondern wie die zusammenhanglosen Selbstgespräche der verwirrten, gebrochenen Frau, die Jasmine ist. Man kann sich jedenfalls vorstellen, dass all die geliebten Helden aus Allens Filmen, würden sie aus ihrem privilegierten Umfeld gerissen, ähnlich reagieren würden wie Jasmine - so richtig lebensfähig waren sie allein schließlich auch in den seltensten Fällen.

Jasmine also ist eine ambivalente Figur, in einem Film voller ambivalenter Figuren: Sally Hawkins' Ginger mag zunächst wie der moralischere, bodenständige Gegenpart zu Jasmine wirken, doch direkt unter der Oberfläche brodelt eine aufgestaute Wut gegen Jasmine, ein Neid auf ihre Schwester, die wegen ihren "besseren Genen” (beide Schwestern sind adoptiert) von den Eltern bevorzugt wurde und das Leben führt(e), dass Ginger auch verdient gehabt hätte. Ihre Beziehung mit Chili (Bobby Cannavale) scheint, anders als Jasmines Beziehung zu ihrem Hal, in die wir in Flashbacks immer wieder Einblicke bekommen, tatsächlich auf gegenseitiger Liebe zu basieren. Doch in den Flashbacks lernen wir auch Gingers Ex-Mann Augie (Andrew Dice Clay) kennen, und man kann nicht anders, als in Chili eine jüngere Version Augies zu sehen, mit der Ginger das alte Modell ersetzt hat - zumal nie so ganz klar wird, was der Auslöser für die Trennung der beiden war und Ginger auch ihrem Chili nicht 100% treu ist.

Die Männer des Films kommen übrigens ebenfalls nur bedingt gut weg. Augie und Chili scheinen zwar grundsätzlich gute Menschen zu sein, doch beide werden, von Ginger verlassen, auf ein jämmerliches Häufchen Elend reduziert, beide scheinen Ginger auf ungesunde Weise in den Mittelpunkt ihres Lebens zu stellen. Selbst die zunächst sympathischste und, anscheinend, glücklichste Figur, eine kurze Affäre Gingers gespielt vom König der Depressions-Comedy Louis CK, stellt sich schon bald als verheirateter Mann heraus, der zwar anscheinend durchaus mit Ginger zusammensein will, aber nicht den Mut hat, seine Beziehung zu beenden.

Eigenständigkeit, Potenz, wenn man so will, bekommen Männer in diesem Film nur durch Geld, und so verwundert es schon gar nicht mehr, dass die völlig desillusionierte Jasmine in ihrem Versuch, sich neu zu erfinden (wie sie es schon einmal getan hat - selbst ihr Name, der ihrem Ex-Mann so gefiel, ist nicht ihr echter) dem nächstbesten wohlhabenden Mann (Peter Sarsgaard) erzählt, sie sei Innenausstatterin, in dem Versuch, ihm nahe zu kommen und - fast wichtiger - Zugang zu seinem luxuriösen Haus zu bekommen.

Niemand in diesem Film wirkt so richtig glücklich mit seinem Leben, niemand ist - auch, wenn alle Figuren stets nachvollziehbar handeln - so ganz sympathisch und so wird BLUE JASMINE zu Woody Allens deprimierendstem Film seit langem und ist streckenweise alles andere als angenehm anzusehen - zumal Allen, wie oft in seinen Dramen, eine gewisse analytische Distanz zu seinen Figuren einnimmt, oft die Wärme vermissen lässt, die man in seinen Komödien, bei allem intellektuellen Sarkasmus, doch stets noch findet. Dass man dennoch dabei bleibt, gefesselt ist und mitfühlt, ist den wie so oft in Allens Filmen durch die Bank hervorragenden Performances zu verdanken. Bobby Cannavale und besonders Proll-Comedian Andrew Dice Clay hätte man diese Verwundbarkeit nicht zugetraut, Britin Sally Hawkins wirkt, als hätte sie nie irgendwo anders als in ihrem kleinen Apartment in San Francisco gelebt und, natürlich, Cate Blanchett spielt sich in der Titelrolle die Seele aus dem Leib und dürfte sich zumindest die Oscar-Nominierung gesichert haben. Wie sie sprunghaft zwischen Manie und Depression, zwischen trotzigem Optimismus und stiller Verzweiflung, zwischen sorgsam kultivierter, überlebensgroßer Persona und Wahnsinn pendelt, wie sie mit zittrigen Händen Xanax mit Whiskey runterspült, wie sie Jasmine stets knapp an der Grenze zur Karikatur anlegt, diese jedoch nie überschreitet, ist absolut hypnotisch und allein Grund genug, BLUE JASMINE zu sehen.

Nach MIDNIGHT IN PARIS ist BLUE JASMINE der zweite Film in kurzer Zeit, der sich, anders als so viele seiner Filme der vergangenen Dekade, nach Classic Woody anfühlt. Zusammen würden die beiden Filme ein schönes Double-Feature abgeben, das Allen-Neulingen einen Einblick in die Extreme seines Schaffens - leichtfüßig-verkitschte Komödie und analytische, pessimistische Tragödie - bietet. Welchen der beiden Filme man bevorzugt - beide wurden von der internationale Kritik als Woodys Rückkehr zu alter Form gefeiert, aber das ist mittlerweile fast schon Tradition bei Allens Filmen - hängt wohl davon ab, mit welcher Seite des Künstler Woody Allen man sich eher identifiziert - sicher ist jedoch: Mit zwei so starken Filmen in so kurzer Zeit hat Allen bewiesen, dass seine Glanzzeit vielleicht doch noch nicht hinter ihm liegt. Man sollte sich nicht von dem noch immer gleichen Font im Vorspann und den gefühlt ca. fünf verschiedenen Piano-Jazzstücken, mit denen er noch immer seine Filme unterlegt, täuschen lassen: Mit Woody ist auch nach über 40 Jahren im Geschäft noch zu rechnen.

P.S: Allen hat sich in Interviews begeistert von Louis CK gezeigt und zu Protokoll gegeben, dass er überlege, ein "Buddy-Movie” (!) mit CK und Woody selbst (!!) in den Hauptrollen zu schreiben. Das ist vielleicht der beste Pitch in der Geschichte des Kinos.











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