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MARTYRS (Frankreich/Kanada 2008)

von Heiko Hanel

Original Titel. MARTYRS
Laufzeit in Minuten. 97

Regie. PASCAL LAUGIER
Drehbuch. PASCAL LAUGIER
Musik. ALEX CORTÉS . WILLIE CORTÉS
Kamera. STÉPHANE MARTIN . NATHALIE MOLIAVKO-VISOTZKY
Schnitt. SÉBASTIEN PRANGÉRE
Darsteller. MORJANA ALAOUI . MYLÈNE JAMPANOI . CATHERINE BÉGIN . ROBERT TOUPIN u.a.

Review Datum. 2008-10-20
Kinostart Deutschland. nicht bekannt

Dass sich MARTYRS nicht in die gut laufende Welle von gewalttätigen französischen Filmen einreihen will, merkt man vielleicht am ehesten daran, dass Philippe Nahon nicht mitspielt. Der grobschlächtige Metzger aus den Filmen von Gaspar Noé hat seitdem eine seltsame Karriere als misantropisches Monster in Filmen wie HIGH TENSION gemacht. Aber, wie gesagt: er spielt nicht mit.

MARTYRS will anders sein und macht ratlos. Am besten ist es, gar nicht weiterzulesen weil alle Infos und die zahlreichen Vorankündigungen einem den Film nur vermiesen. Wenn sich Deppen vor die Leinwand stellen und sagen, das hier sei der brutalste Film aller Zeiten und es sei unmöglich, diesen ohne Buchschmerzen anzusehen, können die Erwartungen nie erfüllt werden. Auch mit der kammerspielhaften Meditation über Geburt und Tod von INSIDE kann man diese kühle Studie voll komprimierter Handlung nicht vergleichen. Das verkopfte Kubricksche Meisterwerk mit Hinweisen auf das Funktionieren der Welt ist MARTYRS auch nicht. Vielleicht ist der beste Ansatz, die Erwartungshaltung auf Genreschocker wie SAW oder HOSTEL runterzuschrauben. Als Rache- und Quälfilm fängt MARTYRS nämlich an. Und nachdem er sich dann über zwei Drittel der Handlung nicht von den Konventionen dieser Gattung löst, meint man auch zu wissen, woher der Titel des Films kommt.

Es fängt an mit der kleinen Lucie, die fürchterlich zugerichtet aufgefunden wird. Monatelang wurde sie von Unbekannten gefoltert, ohne dass ein sexueller Missbrauch stattfand. Der Fall wird nie aufgeklärt. Jahre später dringt sie mit ihrer Kinderheimnachbarin Anna in die Wohnung einer Familie ein, um Diese erbarmungslos abzuschlachten. Anna hilft ihr dabei, hat aber so ihre Zweifel, dass es sich bei den Eltern um Lucies ehemalige Folterknechte handeln soll. Bestätigt fühlt sie sich durch Lucies zunehmenden Selbstverletzungstrieb und das Auftauchen von Dämonen, die nur Lucie sehen kann. Dass die Zweifel unangebracht sind, merkt Anna, als sie einen Geheimgang entdeckt, der zu einer gut gesicherten Zelle führt. Dahinter erwartet sie Fürchterliches.
Erst mal scheint alles bekannt. Zwei junge, leicht bekleidete Frauen auf Rachefeldzug. Dass die Rächerinnen im Haus bleiben und die Leichen verbuddeln wollen, ist mehr als blöd, wird nicht erklärt und entspricht wie vieles in diesem Film den immergleichen Horrorkonventionen. Auch der sichtbar gemachte Dämon, von dem Lucie terrorisiert wird, hätte ruhig etwas weniger sichtbar sein dürfen. Und Schizophrenie im Film darzustellen, naja, da sind schon Größere dran gescheitert.

Außerdem wundert man sich über eine sehr kühle Inszenierung und die fehlende Charakterentwicklung der Figuren. Nicht dass einen das in anderen Filmen des Genres stört, aber Lucie und Anna haben so gar nichts an sich, was beim Publikum großes Mitgefühl auslösen würde.

Was dann kommt, ist ein Angriff auf den Zuschauer. Vor allem auf den Zuschauer, der zu diesem Zeitpunkt schon etwas gelangweilt abwinkt. Nachdem sich der Film bisher auf die traumatisierte Lucie konzentriert, fällt diese völlig überraschend aus der Handlung. Nun steht plötzlich die bisher nur als beobachtendes filmisches Mittel eingeführte Anna im Vordergrund. Und die darf nun leider nicht mehr nur beobachten.

Das ist nicht der einzige Bruch. Was vorher mit Dunkelheit, raschen Bewegungen, Schatten im Hintergrund und kurzer, explosiver Gewalt einem typischen Slasherfilm entsprach, wird nun vom Regisseur komplett entschleunigt. Alles ist hell beleuchtet, schnelle Schnitte fehlen, neu eingeführte Figuren agieren stoisch, selbst Opfer benehmen sich unangemessen. Später gibt es einen weiteren Wechsel der Protagonisten.

Dieses letzte Drittel hat nicht nur durch das Gezeigte, sondern gerade durch seine ausgeleuchtete Trägheit zum Ruf von MARTYRS geführt. Und das zu Recht. Wer einem 60 Minuten lang das Gefühl von Sicherheit in Genrekonventionen gibt, um dem Zuschauer dann so richtig eine aufs Maul zu geben, der hat unsere Zuneigung verdient.

Das schönste an MARTYRS ist aber der GRUND für den Leidensweg von Lucie und Anna. Statt servieren eines Standard-Psycho-McGuffins als Erklärung für das Geschehene, liefert Pascal Laugier eine echte Begründung. Und die ist so absurd wie plausibel im Kontext dieser Erzählung. Nach Verlassen des Kinos und erster Ratlosigkeit, bleibt noch wochenlang ein bitterer Nachgeschmack. Und das Gefühl hatte ich im Zusammenhang mit einem Film schon lange nicht mehr. Toll!











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