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LIVID - DAS BLUT DER BALLERINAS (Frankreich 2011)

von Björn Lahrmann

Original Titel. LIVIDE
Laufzeit in Minuten. 88

Regie. ALEXANDRE BUSTILLO . JULIEN MAURY
Drehbuch. ALEXANDRE BUSTILLO . JULIEN MAURY
Musik. RAPHAEL GESQUA
Kamera. LAURENT BARÈS
Schnitt. BAXTER
Darsteller. CHLOÉ COULLOUD . CATHERINE JACOB . MARIE-CLAUDE PIETRAGALLA . BÉATRICE DALLE u.a.

Review Datum. 2012-04-10
Kinostart Deutschland. nicht bekannt

Auf Sturm und Drang folgt Klassik, so will es die Epochengeschichte, und angesichts der zweiten Regiearbeit von Alexandre Bustillo und Julien Maury kann man erstmal nicht anders als zustimmen. INSIDE ritt vor fünf Jahren an der Spitze der französischen Gore-Welle, war nihilistisch auf primitive Art, ganz ohne die metaphysischen (MARTYRS) bis soziopolitischen (FRONTIÈRE(S)) Beiklänge verwandter Galliergranaten, mehr noch: ohne erkennbare Anbindung ans bzw. Auseinandersetzung mit dem eigenen Genre. Das wird jetzt ausgiebig nachgeholt, diktiert geradezu Stoff und Form des Nachfolgers, der ungemein kühn eine Überfülle an tradierten Motiven - von Alice bis Zombies - zu immer traumhafteren Erzählgespinsten ineinanderschlingt, sie in diffus freie, rein ästhetische Bezüge setzt. Auf einen von Schlegel aus der Malerei entlehnten Begriff gebracht: LIVID ist eine formvollendete Arabeske.

Malerisch-bildfixiert schon der Titel: Aschfahl, leichengrau ist vorherrschender Farb- und Stimmungsgrund in dem kleinen Fischerdorf, das in überraschend realistischer Tönung eingeführt wird. An einer rostigen Bushaltestelle kleben Vermisstenplakate, jemand stiehlt hier offenbar Mädchen, vielleicht wandern sie aber auch einfach nur aus. Die Perspektivlosigkeit der Jungen, die in den Alten ihren Weg lähmend vorgezeichnet finden - die Väter fahren zur See, die Mütter bringen sich um -, weckt, fast wie bei den Dardennes, kriminelle Energien: Am ersten Tag ihres Pflegerinnenpraktikums erfährt Lucie (Chloé Coulloud) von einem Schatz, der in der Villa einer abgezehrten komatösen Vettel lagern soll. Noch in derselben Nacht lässt sie sich von ihrem Freund zum Einbruch breitschlagen, der dann allerdings, wie überhaupt der Rest des Films, so gar nicht nach Plan verläuft.

Schön unverschämt assoziiert sich schon dieser Auftakt quer durch die Ahnengalerie: Ausgangspunkt bildet Mario Bavas kurzformatiges Schauerstück DER WASSERTROPFEN; die unheimliche Alte erinnert mit schwarzer Atemmaske an den unvergesslichen Dr. Freudstein aus Fulcis HAUS AN DER FRIEDHOFSMAUER; ihr Name, Deborah Jessel, kontaminiert die Protagonistin aus Henry James' "Turn of the Screw" mit deren Darstellerin, Deborah Kerr, in Jack Claytons Verfilmung THE INNOCENTS. Höchst angenehm ist, wie Maury und Bustillo sich zu ihren weit gestreuten Referenzen verhalten: Nämlich gar nicht. Weder ehrfürchtige Hommage noch schlaumeierndes Zitatenrätsel will LIVID sein, sondern zwangloses Gedankenspiel, das entlegenste Horrorfixsterne probeweise unter ein und demselben Horizont anordnet. Die Villa fungiert dabei als eine Art Setzkasten, wo hinter jeder Tür ein neues Vorbild, in jedem Spiegel ein unverhoffter Perspektivwechsel lauert.

Dafür, dass der Film seine geisterbahnhafte Mechanik regelrecht burlesk ausstellt - von grausig präparierten Leichenautomaten zu wild rotierenden Laterna magicas wird ein fast Hoffmann'sches Schreckensinstrumentarium aufgefahren -, ist er von bemerkenswert schwerem Mut. Splatter ja, Fun nein, oder aristotelisch gewendet: Keine Furcht ohne Mitleid. Lucie, deren verschiedenfarbige Augen sie wie im Märchen zur Seelenschau bemächtigen, blickt den herumspukenden Monstren direkt ins Herz, wo sich in Endlosschleife ein Bildungsroman mit tragischem Ausgang abspielt. Mörderische Mutter-Kind-Dyaden scheinen es Maury und Bustillo angetan zu haben; war es dem Pregnant Torture Porn von INSIDE jedoch um wenig mehr als tabubrecherische Selbstzuspitzung gegangen, entpuppt sich die Gewalt in LIVID als verzweifelter Liebesdienst, dessen mitfühlende Erkenntnis den Film immer stärker ins Melancholische deeskalieren lässt. Am Ende stehen zwei verlorene Mädchen Hand in Hand am bleiernen Meer, wie bei Caspar David Friedrich oder Jean Rollin. Auf Klassik folgt Romantik: So will es die Epochengeschichte.

LIVID - DAS BLUT DER BALLERINAS ist ab dem 10.05.2012 von Sunfilm auf DVD, Blu-ray und Blu-ray 3D erhältlich.











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