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Aus der Zivilisation in den Dschungel: das war noch nie eine gute Idee. Da lauern Tiger, Kannibalen, irre gewordene Colonels, da nehmen die Geister der Vergangenheit unscharfe Konturen an, da trifft man, im Herzen der Finsternis, auf die Finsternis des eigenen Herzens. Obwohl: Viel finsterer kann es eigentlich kaum mehr werden um Jeanne (Emanuelle Béart) und Paul Belhmer (Rufus Sewell). Seit sechs Monaten sitzen sie fest in Thailands verlorenem Tropenparadies Phuket, wo ihr einziger Sohn Joshua während des Tsunamis verschollen ist; sitzen fest auch im Sinne einer Trauerarbeit, die nicht von der Stelle kommt: Jeanne, in schlafwandlerischer Schockstarre gefangen, will partout nicht an den Tod ihres Sohnes, Paul nicht an die Möglichkeit seines Überlebens glauben. In jedem Blickwechsel: unausgesprochene Schuldzuweisungen. Sie hören Gerüchte, dass im Nachbarland Burma ein lukrativer Handel mit weißen Kindern getrieben wird, sie bekommen ein Video aus der Region zu sehen, auf dem Jeanne im grobpixeligen Hintergrund Joshua zu erkennen wähnt. Mit Hilfe des windigen Triadenkontakts Thaksin Gao (Petch Osathanugrah) bestechen die beiden sich ihren Weg über die Wassergrenze, ohne noch die eigenen Grenzen zu ahnen, an die sie im Dschungel stoßen werden.
Für seine zweite Regiearbeit hatte Fabrice Du Welz (CALVAIRE) ursprünglich ein Remake des spanischen Klassikers EIN KIND ZU TÖTEN... geplant, entschied sich dann aber für einen eigenen Stoff, der das Kinderhorror-Motiv zwar aufgreift, stärker allerdings von den hypnotischen Qualitäten eines APOCALYPSE NOW oder AGUIRRE zehrt. In Interviews bezeichnet der immer etwas aufgekratzt wirkende Regisseur VINYAN als Experimentalfilm und spricht sich vehement gegen die Vormachtstellung des Drehbuchs über die Bilder im französischen Gegenwartskino aus. Beide Aussagen finden in VINYAN ihren Niederschlag, im Guten wie im Schlechten. Obwohl recht scharfkantig in drei Akte aufgeteilt, lässt der Film nach knackiger Exposition sein dünnes Erzählgewebe immer stärker ausfransen und wandelt sich zum wortkargen, kontemplativen mood piece, das den psychischen Verfall seiner Protagonisten durch den Filter der bedrohlich fremden Natur zu skizzieren sucht.
Was nur allzu leicht in eitles Gewichse hätte abgleiten können, entwickelt dank Du Welz' Gespür für audiovisuelle Sinnlichkeit einen elementaren Sog, den man schon in der Vorspannsequenz eindrucksvoll zu spüren bekommt: Da steigen zu anschwellendem Brandungsdonner glitzernde Luftbläschen aus der Dunkelheit auf, bilden seltsam organische Formen, zwischen denen bald schemenhaft vorbeitreibendes Haar sichtbar wird, während das Wasser sich blutig verfärbt: Abstraktion im Innern des Tsunamis. Dann ein Auftakt in hektisch pulsenden Primärfarben: Jeanne, die sich auf der Suche nach Gao durch den Neondistrikt von Phuket wühlt, kopflos und manisch entschlossen, was auch die Kamera fortreißt. Im Mittelteil schaltet Du Welz entgegen aller konventionellen Steigerungslogik einen Gang hinunter, schwelgt ausgiebig (und teilweise dann doch: zu ausgiebig) in monumentalen Naturaufnahmen von klauenartigen Bäumen, aus dem Wasser ragenden Felsengiganten und reglos vorbeischippernden Phantomen im Nebel. Dankbar dramatisiert er die ständigen Wetterumschwünge zu Abbildern von Jeannes und Pauls schwärendem Konflikt: sie brechen zusammen unter ekstatische Blitzkaskaden, isolieren sich hinter Regenwänden, taumeln angeschlagen durch grobkörnige lens flares im trüben Morgenlicht. Benoît Debies meditative Kameraführung lässt dabei das Amorphe der Umgebung noch unwirklicher, traumartiger erscheinen.
Obwohl der Film im letzten, zunehmend surrealen Akt tatsächlich noch auf einen blutigen Payoff zusteuert, tut man VINYAN mit der Horrorkategorisierung keinen Gefallen. Du Welz sperrt sich weitgehend gegen Shock-and-Gore-Konventionen, und wenn er doch mal ein Gruselklischee auspackt (z.B. ein paar zahnlos kichernde Alte), tönt es sofort falsch. Sein Film ist vielmehr als Drama einer an den Wurzeln verfaulten Ehe angelegt, in der väterlicher Verstand und mütterliche Emotion verbissene Fronten ausgebildet haben, die im Dschungel zusehends aufweichen: Wo Pauls unerschütterliche Fassade Risse bekommt, verhärtet sich Jeanne; wo Paul zerstörerischen Zorn entwickelt, verschmilzt Jeanne mit den Elementen. Béarts passive Intensität, die beim Finale in einem befremdlichen Heiligenbild mütterlicher Erotik kulminiert, überstrahlt dabei den mürrisch fluchenden Sewell deutlich.
Was der Film nicht zuletzt auch ist: ein Drama kolonialer Selbstüberschätzung, in dem Pauls naiver Glaube an die Allmacht des Geldes von den Kolonialisierten in marktwirtschaftlicher Höchstvollendung ausgebeutet wird: Aus einem entlegenen Dorf dringt Nachricht, es gebe dort ein weißes Kind, das man gegen einen im Voraus zu entrichtenden Obolus gern mitnehmen dürfe. Vor Ort entpuppt sich die Ware jedoch als Fälschung: es ist ein indigener Junge, dem man das Gesicht gepudert hat. Gao gibt sich über Pauls ablehnende Reaktion irritiert: "Why didn't you take him? He is a child." – "He's not my child", antwortet Paul. Darauf Gao grimmig: "What's the difference?"
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