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FILM.
Wenn man es recht bedenkt, ist der populäre Prangerbegriff des "Killerspiels" eine glatte Tautologie: kaum ein Spiel, das nicht auf der Domestizierung einer bestimmten Form von Gewalt beruht; kaum ein Kindergeburtstag, der – konkreter formuliert – ohne "Cowboy und Indianer" oder "Mord im Dunkeln" auskäme. So jedenfalls die Tradition zwischen Hamburg und München. Auf einer spanischen Fiesta hingegen wird statt Topfschlagen die Piñata aufgehängt, eine mit allerlei Naschwerk gefüllte Pappmaché-Figur, die von der Nachkommenschaft nach Herzenslust zerdroschen werden darf.
Mitten in eine solche Fiesta hinein gerät das englische Touristenpärchen Tom und Evelyn im beschaulichen Küstenort Benavis. Zwei Kinder haben sie daheim gelassen, ein drittes ist bereits auf dem Weg, weswegen Ruhe und Entspannung das Urlaubsgebot der Stunde sind. Statt dessen: Menschenmassen, Festumzüge, Feuerwerk rund um die Uhr. Man entschließt sich, dem Trubel zu entfliehen, auf die abgelegene, auf keiner Karte verzeichnete Insel Almanzora. Dort herrscht in der Mittagsglut Siesta statt Fiesta, das Dorfzentrum ist bis auf ein paar herumtrollende Kinder wie ausgestorben. Die schläfrige Stille entpuppt sich jedoch bald als jene des Todes: Auf offener Straße muss Tom mit ansehen, wie ein höchstens zwölfjähriges Mädchen einen alten Mann mit einem Stock erschlägt, woraufhin die Leiche in einer nahegelegenen Scheune aufgeknüpft und, à la Piñata, von jubelnden Kindern mit der Sense traktiert wird.
In Narciso Ibáñez Serradors vergessenem Meisterwerk EIN KIND ZU TÖTEN... fällt alles Spiel auf seine gewalttätigen Wurzeln zurück: Verstecken wird zur Überlebensnotwendigkeit, Fangen zur Bluthetze, Doktorspielchen zu Nekrophilie. Die Unfähigkeit der Killerkinder zur symbolischen Kompensation von Gewalt – ein Phänomen, das sich später in den brutal-infantilen Ritter- und Gladiatorenspielen des Endzeitfilms wiederfinden wird – ist hier jedoch nicht, wie sonst im Subgenre üblich, auf externe Einflüsse rückführbar (etwa Strahlung, Sekten oder, wie es der sinnvergewaltigte Titel der deutschen Erstfassung vorschlägt, TÖDLICHE BEFEHLE AUS DEM ALL), sondern erscheint als eine diffuse Schutzreaktion der Kinder gegen eine Welt, von der sie konsequent in die Opferposition gedrängt werden. Vage ausformuliert wird dies in einer dokumentarischen Prologsequenz, die Archivaufnahmen aus fünf Kriegen aneinander montiert und Kinder dabei als die Hauptleidtragenden herausstreicht. In dieser Welt, scheint Serrador zu sagen, ist neben der Unschuld auch jeglicher Zugriff auf die Metaebene des Spielerischen verloren: Wo es ums nackte Überleben geht, wird aus Spiel unvermeidlich blutiger Ernst.
"Wer bringt es fertig, ein Kind zu töten?", fragt der Originaltitel und zeigt damit schon die thematische Gewichtung des Films an: Nicht um die Gewalt, die von den Kindern ausgeht, geht es primär, sondern um die Gewalt, die Kindern zugefügt wird. Zentral ist in diesem Zusammenhang die Figur des Tom, hinter dessen sympathischer Heldenfassade inklusive kessem Hosenschlag und Hundeblick sich ein misanthropischer Patriarch sondergleichen verbirgt. Er gibt sich ortskundig und besitzergreifend, ist aber zugleich von der fremden Kultur, die ihn in Benavis mit Pauken und Trompeten empfängt, zutiefst angewidert. Ihn zieht es in die egozentrische Einsamkeit von Almanzora, wo er, wie zu betonen er nicht müde wird, vor zwölf Jahren schon einmal war – was die Vermutung nahelegt, dass er im Verlauf von seinen eigenen Kindern attackiert wird. Allen Grund dazu hätten sie, bedenkt man, dass Tom den oben skizzierten Verfallszustand der Welt als Vorwand missbraucht, seine hochschwangere Frau zur Abtreibung zu überreden, um dem Baby das Leben und der Menschheit unnötigen Zuwachs zu ersparen. Überhaupt bekommt die naive Evelyn am deutlichsten das Ausmaß von Toms Arroganz zu spüren, indem er sie aus falsch verstandenem Beschützerinstinkt permanent gängelt, bevormundet und ihr, sobald die Lage brenzlig wird, lebenswichtige Informationen vorenthält.
EIN KIND ZU TÖTEN... ist ein seltener Genre-Glücksfall, der das Motiv des mörderischen Kindes nicht bloß auf Schock und Spektakel hin ausbeutet, sondern auch tatsächlich etwas über die Willkür elterlicher Definitionsmacht, die zwischen "Kind" und "Erwachsenem" einen begrifflichen Sicherheitsgraben zieht, zu sagen hat. Wo scheinbar wesensverwandte Filme wie DORF DER VERDAMMTEN oder KINDER DES ZORNS die Fremdheit des Kindes noch unterstreichen, dreht Serrador den Spieß um: Bei ihm setzen sich die Kinder eigenmächtig gegen konventionelle Rollenzuweisungen zur Wehr, indem sie den Gesellschaftsvertrag mit Stock und Sense aufkündigen. Die Vermeidung einer wasserdichten Erklärung des rebellischen Treibens hält den Film zugleich offen für mannigfaltige äußere Bezüge, von der Studentenbewegung bis zum Phänomen des Kindersoldaten.
Beinahe nebenbei ist EIN KIND ZU TÖTEN... auch ein Musterexemplar naturalistischen 70er-Jahre-Horrors, dessen messerscharf der Eskalation entgegengetriebenes Grauen im gleißenden Sonnenlicht an Großtaten wie Bavas CANI ARRABBIATI erinnert. Obwohl jahrzehntelang auf Video und DVD unzugänglich, hat der Film seit seiner großflächigen Wiederentdeckung 2007 bereits diversen Genrebeiträgen als Inspirationsquelle gedient, zuletzt Fabrice du Welz' vorzüglichem Dschungelschocker VINYAN und dem weniger gelungenen THE CHILDREN von Tom Shankland. Ein Remake unter dem Titel IN THE PLAYGROUND ist für 2010 angekündigt.
DVD.
Das verdienstvolle Kleinlabel Bildstörung legt hier erneut eine Referenzklasse-DVD vor. Bild und Ton sind altersgemäß in bestmöglicher Verfassung. Als Extras werden neben den üblichen Trailern und Bilderstrecken zwei aktuelle, etwa viertelstündige Interviews mit Regisseur Serrador und Kameramann José Luis Alcaine geboten. Gerade letzterer hat viel Aufschlussreiches zu erzählen, etwa über das Problem, trotz unterschiedlicher Lichtqualitäten an den diversen Drehorten einen Kontinuitätseffekt zu erzielen.
Im liebevoll gestalteten Pappschuber findet sich neben der Silberscheibe auch noch eine Audio-CD mit Waldo de los Rios' avantgardistischem Soundtrack, der kitschige Rivieraromantik effektvoll auf atonales Geflimmer treffen lässt. Ein kenntnisreich geschriebenes Booklet rundet die vorbildliche Edition ab.
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