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CARLOS - DER SCHAKAL (Frankreich/Deutschland 2010)

von Björn Lahrmann

Original Titel. CARLOS
Laufzeit in Minuten. 330/140

Regie. OLIVIER ASSAYAS
Drehbuch. OLIVIER ASSAYAS . DAN FRANCK
Musik. diverse
Kamera. DENIS LENOIR . YORICK LE SAUX
Schnitt. LUC BARNIER . MARION MONNIER
Darsteller. ÉDGAR RAMÍREZ . ALEXANDER SCHEER . NORA VON WALDSTÄTTEN . JULIA HUMMER u.a.

Review Datum. 2010-09-06
Kinostart Deutschland. 2010-11-04

Die Revolution braucht einen Körper. Geliehen bekommt sie ihn von Ilich Ramírez Sánchez, aufgewachsen in Venezuela und London, in Moskau ideologisch geschult, hochversiert in allerlei Sprachen, Kampf- und Flirttechniken sowie ein charismatisches Arschloch ersten Ranges. Unter dem nom de guerre "Carlos" erobert er Anfang der Siebziger mit einer Reihe tollkühner Terrorakte die Welt, hält sie eine Zeitlang ganz ordentlich in Atem, avanciert zum Medienstar, dessen Bodycount die Titelseiten säumt wie Fußballergebnisse. Läuft es gut, stellt er sich nackt vor den Spiegel und liebkost seinen Schwanz; ist er zur Untätigkeit gezwungen, lässt er sich gehen, wird feist und säuft. Lautstark bekundet er Loyalität für die palästinensische Sache, dabei sind seine Motive mindestens ebenso erzpersönlich, seine Allianzen flüssig wie Quecksilber. In späteren Jahren zieht er nomadisch durch die Welt, knapst an seinem Nachruhm und träumt vom spektakulären Abgang mit Kopfgeld und Kugelhagel. Dingfest gemacht haben ihn schließlich 1994 die Franzosen, er verbüßt seine lebenslange Haft im Gefängnis La Santé, Paris.

Ein Leben, fürs Kino wie gemacht trotz im Detail recht spärlicher Faktenlage. CARLOS von Olivier Assayas will sich laut Vorspann als Fiktion begriffen wissen, die die Dunkelstrecken zwischen den eindeutig wikipedierbaren Vita-Punkten mit viel Phantasie beleuchtet und ausmalt. Ein Biopic nichtsdestotrotz, was daran liegt, dass Biopics, zumal solche von schillernden Gangsterpersönlichkeiten, mittlerweile feste Regeln und Codes ausgebildet haben. Abseits des obligatorischen Aufstieg-und-Fall-Narrativs dürfen sie keiner strengen Dramaturgie unterworfen sein, lose folgt Ereignis auf Ereignis. Dahinter verbirgt sich eine Philosophie der Genre-Akkumulation, die u.a. als Vorgaben enthält: Verschwörungskram, Vielweiberei und mindestens eine elaborierte Heist-Sequenz. Der Zeitenlauf hat sich in Frisuren und Autos zu spiegeln, es muss eine Szene geben, wo am Pool Cocktails geschlürft werden und eine, wo auf einer Feier zu Folkloremusik heftig getanzt wird. Last not least ist Überlänge anzupeilen, unter zwei Euro Kassenaufschlag und erzwungener Pinkelpause läuft nichts.

CARLOS erfüllt sein Soll in jeder und speziell letzterer Hinsicht. Fünfeinhalb Stunden dauert die Integralfassung, in Frankreich als Dreiteiler im Fernsehen gezeigt, hierzulande in wenigen Kinos auch auf einen Streich zu bewundern. Tapfer sein muss man dafür erstaunlicherweise nicht, bei aller elefantösen Breite wirkt der Film, zumindest in seiner rasanten ersten Hälfte, doch sehr ökonomisch und straff. Assayas, als Auteur eher Chamäleon denn sturer Ochse, stellt seine Talente ohne falsche Eitelkeit zur Verfügung, vermittelt dynamisch zwischen internationalem Jet Set, Studenten-WG und Politbüro, schnappt beiläufig impressionistische Lichtstimmungen auf. Hochkonzentriertes Chaos verbreiten die Actionsequenzen, mit flirriger Kamera inszeniert und getrieben von furios verstockten Post-Punk-Juwelen, die den Soundtrack garnieren. Glanz- und Zentralstück ist der Überfall auf die Wiener OPEC-Konferenz 1975, ein knapp anderthalbstündiger Mini-Thriller voll brutzelnder Spannung und psychologischer Raffinesse. An diesen Gipfel kann und will der Film hernach nicht mehr anknüpfen, etwas zu bedingungslos folgt Assayas da seinem Sujet in Lethargie und Speckansatz. (Die auf 140 Minuten eingedampfte Kompaktversion kann insbesondere den Schlusspassagen nur gut tun.)

Von allen Mammutproduktionen, die sich in den letzten Jahren mit linkem Terror nach '68 beschäftigt haben, ist CARLOS sicher die gelungenste: als historische Chronik reflektierter und offener als MÜNCHEN oder DER BAADER MEINHOF KOMPLEX, als Charakterprofil weitaus scharfkantiger als der nebulöse CHE. Terrorismus beschreibt Assayas als Frühform globaler Netzwerke, wo man exzessiv und atemlos border hopping betrieb, überall auf wohlgesinnte Kontaktleute traf und trotzdem jede Zelle ihre eigenen Brötchen backte. Übersicht ist eine leichtfertige Illusion, die Ziele so abstrakt, dass man auf Dauer gar nicht anders kann, als private Macht- und Profitgier mit Gerechtigkeit zu verwechseln. Mit den imperialistischen Medien verbindet die Revolutionäre ein Dorian-Gray-Komplex, man ist nur so lange schön und stark, wie man hässliche Bilder produziert: brennende Eisenbahnwracks, blutbespritzte Augenzeugen. Schon allein, weil er die alten, magnetstreifigen Fernsehaufnahmen so insistent als Kontrastmittel einsetzt, gehört dieser Film ins Kino.

Wahrlich imposant strahlt der junge Venezolaner Édgar Ramírez in der Titelrolle, aufsässig, selbstgenießerisch und mühelos polyglott; ein Monomane von antiker Statur, der nicht erst im Alter, mit plumpem Wanst und milchigem Blick, an Orson Welles erinnert. Ihm zur Seite eine internationale Riege, aus der besonders die Deutschen hervorstechen: Alexander Scheer als wieseliger Gefolgsmann, Nora von Waldstätten als heißkalte Ehefrau, Julia Hummer als psychotische Vollstreckerin. Zwischen diesen wirkt Carlos bei aller Stattlichkeit dann doch zuweilen wie ein reizbares Kind, das die eigene Abhängigkeit leugnet. Zu den anregendsten Spekulationen des Films gehört jene, die besagt, Carlos sei in erster Linie Geldmarionette diverser nahöstlicher Staatschefs gewesen; ein Mann fürs sehr Grobe, der nach seiner aktiven Zeit von den Sozialisten mit viel Gutwillen durch den Kalten Krieg geschleift wurde. CARLOS: ein Essay nicht zuletzt über die Blauäugigkeit der Linken, sich immer wieder von den Systemen vereinnahmen zu lassen, die sie bekämpft.











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