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Aus der Luft schweben wir herbei. Unten am Boden ein nacktes Mädchen, eine Nymphe vielleicht, sie durchtaucht einen kleinen See inmitten dichten Laubwerks. Ein Zauberwald? Wir hören ihre Stimme, sie ist von jener schläfrigen Schwere, die russische Akzente dem Deutschen beifügen: "Meine Großmutter hat immer gesagt: Kindchen, unter Wasser findest du den Mann, den du liebst." Märchen fangen so an. Aus der Höhe wechselt die Kamera hinab ins Blau der Tiefe; zwischen Algen und versenkten Sowjet-Panzern schimmert traumähnlich ein Männergesicht, blond, jungenhaft, deutsch.
Wir finden es wieder, einen Schnitt später, auf den muffigen Fluren eines Ostberliner Plattenbaus; es gehört dem jungen Polizisten Marek Gorsky (Max Riemelt), der zusammen mit seinem Kollegen Sven Lottner (Ronald Zehrfeld) – bärig, sexy, cool – einen kleinen Dieb ausheben soll. Wie die Berserker gehen die beiden zu Werke, Wumme gezückt, Kugelsichere über der nackten Brust, und noch am Adrenalin-Limit rinnen Witze ihnen wie Schnodder aus dem Mund. Eine Tür geht zu Bruch, man findet: Vietnamesen über Vietnamesen. Scheiße, falsche Tür. Aus der Nymphen Wassertraum: Plötzlich befinden wir uns mitten im dreckigsten Genremorast, Cops 'n' Robbers, Policier, Poliziottescho – aber irgendwie nicht: in einer piefigen deutschen Krimiserie, die das hier doch eigentlich sein soll.
IM ANGESICHT DES VERBRECHENS ist gerade nicht, was man gemeinhin ein "Qualitätsprodukt" schimpft. Qualität kann ja, zumal in einem so bürokratischen Kontext wie dem deutschen Fernsehen, eine beschwerliche Sache sein – eine, die weniger mit Großzügigkeit und Vertrauen einer künstlerischen Idee gegenüber zu tun hat als mit dem Klotz an ästhetischen Vorgaben, den man ans Bein sich zu binden genötigt ist, will man Geldgebern und Publikum nicht davonrennen (oder umgekehrt). Die im amerikanischen Quality TV so zentrale Position des Creators – des Serienschöpfers als oberster kreativer Instanz – ist hierzulande nicht umsonst ein Fremdwort und findet ihre Entsprechung allenfalls im sendereigenen Ressort-Chef, dessen Dienst maßgeblich der Absicherung zu gelten scheint, bloß niemanden um den gesunden Schlaf zu bringen.
Dominik Graf ist eine Ausnahme. Seit Jahren schon verwirklicht er ausgerechnet im Fernsehen kühnste cinephile Träume, schmuggelt klammheimlich arkane B-Movie-Manierismen in deutsche Lieblingsformate. Unvergessen etwa seine TATORT-Episode "Frau Bu lacht", eine Schändergeschichte von surrealer Komik und das wohl größte Trojanische Pferd, das die Reihe sich seit Sam Fullers Gastbeitrag aus den Anfangstagen ins Haus geholt hat. Grafs besondere Liebe gilt der Italotrash-Ästhetik der 70er und 80er, zuletzt überdeutlich sichtbar in seinem TV-Film DAS GELÜBDE: eine biografische Episode aus dem Leben Clemens Brentanos, die sich mit ruppigen Zooms und bleicher Schminke wie eine Hommage an Lucio Fulci ausnimmt. Grafs Zombiekunst, tote Filmsprachen fließend zu beherrschen und mit ihrem Vokabular vertraute Erzählformen anzureichern, erfährt mit IM ANGESICHT DES VERBRECHENS ihre endgültige Perfektion.
IM ANGESICHT DES VERBRECHENS
Im Kern handelt die zehnteilige Serie von der gegenseitigen Infiltration zweier Welten: Zauberwald und Plattenbau, Russland und Deutschland, Polizei und organisiertes Verbrechen. Die Nymphe vom See, Lenka heißt sie, wird einem alten Märchen nach Berlin folgen, dem Märchen vom Glück im gelobten Westen, das sich schnell als Albtraum vom Kreuzberger Striplokal entpuppt. Selbiges befindet sich unter Protektion der Russenmafia und gerät daher alsbald ins Zentrum polizeilichen Interesses, speziell Lottners, der das Dasein als einfacher Streifenbulle satt hat und sich über einen Coup in der Unterwelt eine Position beim LKA erhofft. Als Schwellenfigur zwischen den Sphären fungiert Marek, Sprössling einer russisch-jüdischen Familie, der hin- und hergerissen ist zwischen gerechter Rache für seinen von Mafia-Schergen ermordeten Bruder und der haarscharf am Inzestuösen vorbeischrammenden Liebe zu seiner Schwester Stella (Marie Bäumer), der Ehefrau eines hochrangigen Mobsters (Misel Maticevic).
Parallelführung von Gesetz und Verbrechen: das ist wahrlich nichts Neues in einem Genre, das immer schon mit moralischer Ambivalenz geliebäugelt hat. Das perspektivische Flirren jedoch, mit dem Graf dieses althergebrachte Muster auflädt, trügt nachhaltig den Augenschein. Brachialste Stimmungsschwankungen werden dem Publikum zugemutet, ständig kippt naturalistische Härte in hochartifizielle Genre-Romantik, nonchalante Bullen-Kameraderie in opernhaftes Gangsterpathos. Regelrechte Stil-Kernschmelzen vollziehen sich in den hyperkinetischen Actionsequenzen: Ein Pistolenduell im zappendusteren Abwasserschacht löst sich auf in abstrakten Noir-Minimalismus, und bei einem Juwelenraub werden dem Personal Uzis ins Maul gerammt, dass das grellrote Kunstblut nur so von der Lippe tropft. Die Durchtränkung unvereinbarer Tonlagen wird noch akzentuiert durch den flüssig gleitenden Schnitt, der einen geradezu fiebertraumhaften Erzählrhythmus erzeugt.
Genussvoll wird so Sehgewohnheiten ins Auge gepiekt, die auf narrative Eindeutigkeit gepolt sind, auf die saubere Trennung von Trash und Hochkultur, Ernst und Ironie, Eskapismus und vermeintlich kritischem Weltbezug. Zwar hat Drehbuchautor Rolf Basedow für die Zeichnung des Gangster-Milieus sowie dessen Verflechtungen in Politik und Wirtschaft akribische Recherchen betrieben, lässt sich aber zugleich das Schwelgen in saftigen Mafia-Klischees nicht nehmen: Zu Stellas Geburtstag lässt ihr Mann vom Himmel rote Rosen regnen; ein anderer Boss cruist, Verdi-Arien grölend, mit offenem Verdeck um die Siegessäule; und die Handlangerschaft frönt dem billig-dekadenten Bling-bling-Lifestyle inklusive Kampfhund, Koks und drall bepumpsten Blondinen.
Basedows Skript ist in mancherlei Hinsicht staunenswert. Mit uhrwerkshafter Präzision manövriert er sein über 140 Sprechrollen umfassendes Ensemble durch ein haarfein verästeltes Heckenlabyrinth von Plot, bei dem noch entlegenste Spannungsbögen an der Wurzel verknüpft sind, kein Strang je ins Leere läuft. Trotz maximaler Ereignisdichte schafft er seinen Figuren immer wieder üppige dramaturgische Freiräume. Bei ausgiebig zelebrierten Tischritualen fächern sich ganze Mentalitätsgeschichten vor einem auf: Im Wiesenhof des LKA feiert man Betriebsfest mit verbrannten Grillwürsten, im russischen Luxusrestaurant gelallte Umtrünke bei dämonischer Nachtbeleuchtung, und in polnischen Expresszügen werden Industriebonzen mit Nutten und Kaviar beköstigt. Auch Sex findet bei Gelegenheit statt, aber weder mit handlungsübermannender Wucht noch verstohlener Dezenz: In einer unheimlich tollen Szene springen Sven und Marek mit ihrer hübschen Kollegin Fallschirm; am Boden treiben sie's dann zu dritt unter der Seide, leichthin und folgenlos.
IM ANGESICHT DES VERBRECHENS
Momente von emphatischer Nebensächlichkeit sind das, die dem Zuschauer die rare Gunst gewähren, Figuren einmal jenseits geschäftigen Tuns in ihrem bloßen Sein kennen zu lernen. Ein Vergnügen ist es, die ausnahmslos fantastischen Darsteller in Rollen schlüpfen zu sehen, die wie Maßanzüge ihre natürlichen Proportionen zur Geltung bringen: Riemelts milchige Melancholie, Bäumers heißkalte Perversität, Maticevics Haifischglätte; und die Beiläufigkeit, mit der Zehrfeld einen saloppen One-liner nach dem anderen durch die Lippen schmatzt, lässt einen direkt vergessen, wie schwer sich die deutsche Sprache für gewöhnlich mit sowas tut.
Zur niederdrückenden Schwere deutschen Humors – nicht nur Komik im engeren Sinne, sondern der allgemein brockigen Zusammensetzung hiesigen Erzählerbluts – bildet das Werk von Dominik Graf ein willkommenes Gegengewicht. IM ANGESICHT DES VERBRECHENS ist die Summe seines Schaffens: eine Serie von epischer Triebkraft, die buchstäblich über den Dingen steht, ein Höhenflug über die sonst so furchtbar bodenständige deutsche TV-Landschaft. Aus der Luft schweben wir herbei, unter uns eine unruhig glühende Stadt bei Nacht: Berlin, Helikopterpanorama. Das ist die Perspektive, die alles zusammenhält, das Hohe und das Niedrige, das Zarte und das Brutale, den Glanz und den Schmutz. Ein poetischer Blick auf ein raues Pflaster.
Irgendwann wird ein Mann eine Frau darum bitten, ihm etwas Schönes zu sagen. Sie überlegt einen Moment, lächelt, antwortet: "Wenn ich bei dir bin, seh' ich die Stadt von oben." Man würde gern öfter so schweben.
IM ANGESICHT DES VERBRECHENS läuft ab dem 27.04.2010 bei ARTE.
• Adrenalin fließt wieder: Dominik Grafs Genre-Fantasie Im Angesicht des Verbrechens
• Reportage zu den 60. Internationalen Filmfestspielen Berlin
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