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UNENDLICHE TIEFEN

Essay.
1-18-08 – Ein zukünftiges Datum und seine gegenwärtigen Folgen
von Jan Zeleny

1-18-08

Bald zehn Jahre ist es jetzt her, dass die Kinogänger dieser Welt sich vor der Hexe von Blair fürchteten, die dank Daniel Myricks und Eduardo Sánchez' simpler wie brillanter Idee, ihren Film als Dokumentation zu deklarieren, zur Grossmutter des viralen Marketing wurde. Und jetzt sorgen nichtmal zwei Minuten Film, mit der selben Technik der Authentifizierung, aus der Perspektive einer Heimvideokamera gefilmt, erneut für ein Aufsehen sondergleichen. Vor gerade mal zwei Wochen ist TRANSFORMERS in den Staaten angelaufen, und bereits jetzt hat der 1:50 Min.-Teaser, der vor dem Film plaziert wurde, den Grossteil des Hypes abgegraben – zumindest in der daueralerten Netzgemeinschaft. Ein früher Codename des Projekts war "CLOVERFIELD", das mittlerweile unter 1-18-08 firmiert - dem Datum, das gleichzeitig offizieller Starttermin und jener Tag ist, an dem die Handlung des Films stattfindet.

Der Teaser zeigt eine offenbar von einem Gast mitgefilmte Abschiedsparty für einen gewissen Rob, der im Begriff ist, nach Japan zu reisen. Unvermittelt ertönt ein unirdisches Heulen, die Lichter flackern und im Fernsehen ist von einem Erdbeben die Rede. Rob und seine Freunde stürzen aufs Dach, um Downtown Manhattan in einem gigantischen Feuerball explodieren zu sehen; Trümmer schlagen ein, Panik entbrennt. Auf der Strasse angekommen, findet sich die Gruppe in einem Strom von Menschen wieder, jemand schreit "I saw it! It's alive, it's huge!", dann prallt ein gigantisches Projektil an einem Wolkenkratzer ab, schlägt direkt vor dem Auge der Kamera auf und schlittert funkensprühend über den Asphalt. Es ist der Kopf der Freiheitsstatue.

Innerhalb kürzester Zeit tauchte der Teaser in miserabler Qualität abgefilmt auf den entsprechenden Plattformen wie youtube und google.video auf, und innerhalb kürzester Zeit trieben die Spekulationen ausgeprägt bizarre Blüten. Es würde sich um einen neuen GODZILLA- oder den kommenden VOLTRON-Film handeln, um ein LOST-Tie-in, vielleicht gar um eine Adaption von Lovecrafts Cthulu-Mythos - je nachdem, in welchem Fanboylager man sich umhörte, bekam man mehr oder weniger schlüssige Theorien für die eine oder andere Möglichkeit präsentiert, ungeachtet dessen wie bizarr sie sein mochte. Nachdem Paramount anfangs noch bemüht war, das Material entfernen zu lassen, kapitulierte man angesichts des überwältigenden Interesses bereits nach wenigen Tagen und stellte den Teaser offiziell und in HD ins Netz. Was die wüsten Spekulationen anfangs nur anheizte, da nun alle Welt im wahrsten Sinne des Wortes Bild für Bild verzweifelt nach weiteren Anhaltspunkten suchte.

Zwischenzeitlich sickerten weitere spärliche Informationen ins Netz: Alle Beteiligten am Set seien vertraglich zu absolutem Stillschweigen verpflichtet, das Monster trage den internen Codenamen "The Parasite" und der Film werde mit einem Budget von 30 Millionen vollständig aus der Perspektive einer Handkamera gefilmt. Ein weiteres fulminantes Setpiece sei das Kentern eines Tankers vor der Küste New Yorks.

Eine der wenigen konkreten Informationen, die der Teaser selbst vermittelt, ist, dass J.J. Abrams den Film produziert – einer breiten Masse bekanntgeworden als Schöpfer von LOST, einer Serie, die sich eher durch ein Unmass aufgeworfener Fragen als deren schlüssiger Beantwortung hervortut. Das Datum 1-18-08 führt zu einer Website, auf der anfangs nur ein Schnappschuss zweier offenbar völlig verängstigter Frauen zu sehen war. De fakto zeitgleich wurden zwei seltsame Seiten im Netz gesichtet, die sich mit den Prophezeiungen eines gewissen "Ethan Haas" befassen. Auf einer dieser Seiten müssen fünf Rätsel gelöst werden, für deren Lösung der Spieler jeweils mit einer verzerrten Videobotschaft belohnt wird, in denen allerhand Kryptisches zum nahenden Untergang der Menschheit zu hören ist. Löst der Spieler alle Rätsel, bekommt er ein Passwort, dass am 1. August den Zugang zu weiteren "Informationen" ermöglichen soll.

Das annähernd zeitgleiche Auftauchen dieser Websites mit ähnlichem, apokalyptischem Grundtenor führte dazu, dass innerhalb kürzester Zeit ein Zusammenhang hergestellt wurde, der nie bestanden hat: Tatsächlich handelt es sich bei den beiden "Ethan Haas"-bezogenen Sites um eine separate Kampagne für ein Rollenspiel namens Alpha Omega. Bis Abrams selbst aber am 9. Juli ein "offizielles" Dementi via AICN, der E-Bibel des Geek-Cineasten, veröffentlichte und jeglichen Zusammenhang zwischen 1-18-08 und Ethan Haas abstritt, war es längst zu spät - nach wie vor wird auf einer der beiden Ethan Haas-Seiten über die Bedeutung all der vermeintlichen Hinweise diskutiert, die bislang zu 1-18-08 durchgesickert sind; darunter eine "japanische" Website für einen Softdrink namens "Slusho!", Abrams-Fans bereits aus seiner Serie ALIAS bekannt und nach wie vor die einzige Website, die nicht von Trittbrettfahrern initiiert und von ihm selbst als Teil der Kampagne bestätigt wurde. Der Hersteller von Alpha Omega und grösster Nutzniesser der entstandenen Verwirrung, die Firma Mindstorm Labs, hält sich bislang verständlicherweise komplett aus der Sache raus und reibt sich zweifelsohne im stillen Kämmerlein freudig die Hände.

Das Lostreten einer viralen Lawine diesen Ausmasses ist angesichts der Tatsache, dass Abrams lediglich als Produzent fungiert und es sich eigentlich um einen Film von Matt Reeves handelt, der bis jetzt überwiegend Fernsehserien wie FELICITY und den unterbewerteten THE PALLBEARER geschrieben und inszeniert hat, ein geradezu genialer Coup. Langsam beginnt sich der ausser Kontrolle geratene Hype allerdings gegen seine Schöpfer zu wenden: Während die Verbindung mit dem Alpha Omega-Marketing eher zufällig durch thematische Ähnlichkeiten bedingt war, finden sich mittlerweile Unmengen von mehr oder weniger gutgemachten Fake-Sites im Netz, die sich eine Scheibe vom Traffic abschneiden wollen. Mit der Folge, dass es zunehmend schwierig wird, die Relevanz vermeintlich neuer "Informationen" zu beurteilen. Betrachtet man die 1-18-08-Kampagne jedoch für sich, so stellt man schnell fest, dass hier im Gegensatz zu der Ethan Haas-Kampagne eigentlich überhaupt keine Anhaltspunkte zu finden sind, die dem Betrachter suggerieren, verborgene Informationen erschliessen zu können – es handelt sich lediglich um die multimediale Erweiterung des Teasers. Die Projektion der Fanboys im Netz bedingt sich also aus einem gewissermassen parasitischen Synergieeffekt, von dem in erster Linie Mindstorm Labs profitiert, und der sich aufgrund der zunehmend osmotischen Verschiebung der Erwartungshaltung längst zu einem ernstzunehmenden Problem für Abrams' Marketer entwickelt hat. Eine kaum zu berechnende Dynamik.

Abrams' Statement bemüht sich zwar vordergründig um Aufklärung, behauptet aber gleichzeitig, dass es noch weitere, bislang unentdeckte Seiten im Netz gebe - kaum vorstellbar, wenn man sich das Ausmass des Hypes und die Natur des Internets vor Augen führt. Man darf getrost davon ausgehen, dass der Mann lediglich versucht, Zeit für seine Marketing-Experten zu schinden. Denn Abrams und sein Team stehen vor der unmöglichen Aufgabe, den unglaublichen Hype, den sie geschaffen haben, über sechs geschlagene Monate gezielt am Köcheln zu halten - bereits jetzt gibt es erste, haltlose Mutmassungen, geboren aus krampfhaftem Wunschdenken, dass der Film noch diesen Sommer in die Kinos komme und nicht erst im Januar. Hinzu kommt die wachsende Frustration in der Netzgemeinschaft darüber, keine neuen Informationen mehr aufdecken zu können, weil sich langsam die Gewissheit ausbreitet, dass es gegenwärtig schlicht keine mehr zu geben scheint. Die anfängliche kollektive Euphorie beginnt in Häme umzuschlagen.

Es bleibt also abzuwarten, ob sich die Kampagne für 1-18-08 in der Hall Of Fame des viralen Marketing neben Kampagnen wie der für das BLAIR WITCH PROJECT oder das Album "Year Zero" der Nine Inch Nails einreihen wird, oder ob sie sich zu einem der grössten Desaster in der Geschichte der Werbung entwickelt. Wobei in letzterem Fall die Kosten/Nutzen-Rechnung viraler Kampagnen wohl gänzlich neu bewertet werden wird. Zur alljährlich stattfindenden San Diego Comic Convention, die nächsten Mittwoch beginnt, und zu der Abrams als Gast geladen ist, um über seine Projekte zu sprechen, sollte sich der Mann definitiv warm anziehen. Spannend bleibt die Kampagne für Abrams' aktuelles Projekt in jedem Fall.
















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