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FILM.
Orgasmen nennt man nicht umsonst kleine Tode: Im Moment größter Ekstase hört die Zeit auf, schmelzen Vor- und Nachher ineinander, wie ein rasender Zug, der auf offener Strecke stoppt. Ebendies passiert Stefan (John Karlen) und Valerie (Danielle Ouimet), frischvermählt auf Honeymoon im Schlafwagen: Als sie aus dem softpornografischen Taumel der Hochzeitsnacht - gefilmt in leuchtendem Tintenblau, ein echtes blue movie - aufschrecken, steht ihr Express plötzlich mitten im Nirgendwo. Sind wir schon da, fragt sie. Wir sind doch gerade erst losgefahren, sagt er.
Kaum hat die Ehe begonnen, ist sie auch schon ins Stocken geraten. Stefan kommt das durchaus gelegen, ihm bangt, gesteht er, vor der Reaktion seiner aristokratischer Drachenmutter auf die Blitzheirat mit einer Bürgerlichen. Also wird die Weiterfahrt nach Kräften verzögert: In Ostende quartiert man sich in einem nebensaisonal leerstehenden Nobelhotel ein, das Meer ist schmutziggrau, am Horizont ziehen die Schiffe weite Bögen um die Stadt. Im für niemand eingedeckten Speisesaal wird zweisam einsam diniert, von der Kamera aus dem langen Eck beäugt wie die Fütterung in einem besonders widernatürlichen Zoo. SHINING in Marienbad.
Und wirklich: Auftritt Delphine Seyrig, Ikone des französischen Autorenfilms von Resnais bis Truffaut, die als alterslos glamouröse Blutgräfin Elizabeth Bathory mit Lackstiefeln und dunklem Samttimbre hereinplatzt in die magnetische Dämmerstimmung. Sie bildet mit ihrer Leib- und Liebedienerin Ilona (Covergirl Andrea Rau) ein zweites, komplementäres Pärchen, das sich ohne Vertun an die Seduktionsarbeit macht - nämlich, Stefan und vor allem Valerie aus dem Stupor heteronormativer Bequemlichkeit wachzuküssen.
Die Franco- und Rollin-affine Vampirlesbenmotivik hat BLUT AN DEN LIPPEN, den Harry Kümel fast zeitgleich zum völlig unkategorisierbaren MALPERTUIS drehte, oft das Label gehobener Gothic-Sexploitation eingebracht; tatsächlich ist er deutlich am europäischen Kunstkino geschult: Das geschliffene Dialogbuch stammt von Clouzot- und Malle-Kollaborateur Jean Ferry, Kameramann Eduard van der Enden hatte schon mit Jacques Tati gearbeitet, Komponist François de Roubaix mit Melville. Statt ausgestelltem Camp und Sleaze gibt sich der Film einen bewusst respektablen Qualitätsanstrich - klassische Eleganz und Schönheit, die zugleich als Kontrastgrund für exzessivere Elemente und Schmutzpartikel dient: Sex Talk in der Lounge, vulgärrote Zimmerbeleuchtung, Mädchenmorde in der Klatschpresse.
Weniger polternde Provokation als schleichende Unterwanderung des Gewohnten: So hatte sich Manny Farber idealtypische Termitenkunst vorgestellt. Speziell in den USA war BLUT AN DEN LIPPEN denn auch ein veritabler Mainstreamhit fernab der Schundkinos, in denen vergleichbare Stoffe sonst zu Hause waren. Und was bekam das Middlebrow-Publikum vorgesetzt? Einen Sonnyboy-Helden, hinter dessen sauberer Fassade sich ein ennuizerfressenes Patriarchat verbirgt (die vielzitierte "Mutter" entpuppt sich in einem grandiosen Irritationsmoment als tuckig auftoupierter Décadent); einen väterlichen Inspektor, der über allem zu thronen meint, tatsächlich aber konsequent außen vor bleibt; und ein nur scheinbar unschuldiges Blondchen, das vor den Monstern nicht gerettet, sondern von ihnen zur Selbstlust ermächtigt werden muss.
Vampirismus ist letztlich auch eine Form, die Zeit anzuhalten, sich von tempora und mores zu befreien, den Mief der Gegenwart abzustreifen. Eine Emanzipationsgeschichte also, die Harry Kümel aus Genrekonventionen heraus erzählt, sie anteast, abfälscht und mit sanfter Gewalt bricht, ohne gleich dem verräterischen Legitimationsdruck des Arthouse-Idioms zu erliegen. BLUT AN DEN LIPPEN fällt damit aufs Angenehmste zwischen alle Stühle, zwischen Kategorien wie A-, B- und XXX-Movie. Warum auch festnageln? Filmen wie diesem gehört die Ewigkeit.
DVD.
Gewohnt erstklassige Editionsarbeit von Bildstörung: Den Film gibt's als fabelhaft digital restaurierte Fassung und (auf einer zweiten DVD) alternative deutsche Kinoversion, mit Audiokommentar, dreiteiligem Kümel-Interview, kommentierter Bildergalerie und Booklet (darin u.a. ein kenntnisreicher Essay von Björn Eichstädt).
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