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KAPITELWAHL

DER BLUTIGE PFAD GOTTES (Kanada/USA 1999)

von David Leuenberger

Original Titel. THE BOONDOCK SAINTS
Laufzeit in Minuten. 104

Regie. TROY DUFFY
Drehbuch. TROY DUFFY
Musik. JEFF DANNA
Kamera. ADAM KANE
Schnitt. BILL DERONDE
Darsteller. WILLEM DAFOE . SEAN PATRICK FLANERY . NORMAN REEDUS . DAVID DELLA ROCCO u.a.

Review Datum. 2013-04-03
Erscheinungsdatum. 2012-09-21
Vertrieb. CAPELIGHT PICTURES

Bildformat. 2.35:1 (anamorph)
Tonformat. DEUTSCH (DD 5.1) . ENGLISCH (DD 5.1)
Untertitel. DEUTSCH . ENGLISCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
"Kultfilm" ist abgestandener Begriff: viel zu vieles wird heutzutage so bezeichnet. Manch eine Direct-to-DVD-Veröffentlichung prophezeit dem Käufer gar was von "schon jetzt Kult". Auf THE BOONDOCK SAINTS - DER BLUTIGE PFAD GOTTES dürfte jedoch dieses Label aus verschiedensten Gründen zutreffen. Da ist der grandiose kommerzielle Schiffbruch bei der Kinoveröffentlichung - der Film wurde nur eine Woche lang in gerade mal fünf (!) Kinos in den USA vorgeführt und spielte dementsprechend sein Sieben-Millionen-Dollar-Budget nicht wieder ein. Die Entstehungsumstände mit dem Streit zwischen Miramax und dem großkotzigen Regie-Amateur Troy Duffy verliehen dem NC-17-Film einen zusätzlichen Touch. Es folgte schließlich die erfolgreiche VHS- und DVD-Auswertung dank Mundpropaganda. Bis heute herrscht Uneinigkeit über die filmischen Qualitäten von DER BLUTIGE PFAD GOTTES, besonders angesichts der provokanten Selbstjustiz-Thematik. Alle Zutaten zum "richtigen" Kult ist also da: kommerzieller Kinoflop, erfolgreiche Video-Auswertung, konfliktreiche Entstehungsumstände, schillernder Regisseur, kontroverser Inhalt, umstrittene Qualität.

Besonders bei wiederholten Sichtungen merkt man jedoch, dass Troy Duffys Regiedebüt in vielerlei Hinsicht relativ konventionell ausfällt. Dass die Schwächen des Films immer deutlicher auffallen, ermöglicht letztlich aber auch einen geschärften Blick auf seine Stärken.

Die irischen Gebrüder McManus zetteln in einem Bostoner Pub einen Zoff mit einigen russischen Mafiosi an. Für das, was sie für eine harmlose Kneipenschlägerei halten, bekommen die beiden gläubigen Katholiken einen Todeskommando an den Hals gehetzt, den sie gekonnt ausknocken. Die Polizei lässt sie wieder frei, Presse und Öffentlichkeit feiert sie als "Heilige". In einer Art göttlichen Offenbarung bekommen die McManus-Brüder das Gefühl, dass sie auch ohne Notwehrsituation einige böse Jungs im Namen höherer Gerechtigkeit ausschalten könnten. Mit Unterstützung eines kleinen Mafia-Kuriers ziehen sie in die Schlacht und hinterlassen eine Blutspur durch die ganze Bostoner Unterwelt.

DER BLUTIGE PFAD GOTTES übernimmt Elemente des klassischen Vigilanten-Thrillers und reichert diesen mit absurd-skurrilen Figuren an. Das ist alles andere als originell, funktioniert aber ganz leidlich. Da ist zunächst einmal das rächende Geschwisterpaar: latent prollige Fleischfabrik-Arbeiter, die ihre Feierabende in irischen Pubs begießen und ihren Glauben nicht zuletzt durch ausgefallene Tattoos zur Schau stellen - in ihrer Polyglottie jedoch fast übermenschlich sind. Einer der beiden steht übrigens tierisch auf Charles Bronson-Filme und nervt vor den "Einsätzen" seinen Bruder damit auch. Da ist dann noch Rocco, ihr italienischer Kumpel, der dank seines Insider-Wissens als Kurier die Brüder mit wertvollen Informationen versorgen kann, dessen intellektuelle und motorische Inkompetenzen sich jedoch oft als eher problematisch herausstellen. Zum Schluss kommt dann noch ein bedrohlicher Killer hinzu, der aussieht, als hätte er sich aus einem schlechten Horrorcomic davongestohlen und der wie ein berühmter europäischer Diktator heisst. Und Ron Jeremy (zur Erinnerung: kleiner, kugelrunder, haariger Porno-Star aus den 70ern und 80ern) spielt auch mit.

Das alles kann man als billigen Ersatz für Charaktertiefe verschreien. Oder aber man kann sich einfach daran freuen. Die Figuren sind jedenfalls um einiges gelungener als die Inszenierung. Nicht wirklich schlecht ist sie, aber über weite Strecken relativ beliebig. Die ästhetisierten Action-Szenen und Shoot-Outs in extremer Slow-Motion sind ganz nett anzusehen, andererseits aber auch nicht grundlegend originell - Peckinpah lässt grüßen. Am originellsten ist vielleicht tatsächlich die Verknüpfung aus Tat-Rekonstruktionen durch Polizei und FBI und den Action-Sequenzen selbst und die Komik, die sich aus den manchmal richtigen, manchmal falschen Schlussfolgerungen der Ermittler ergeben. Während anfänglich die Ermittlungen den als Flashbacks konzipierten Schießereien vorangehen, verschmelzen sie nach und nach bis zu dem Punkt, wo sie gleichzeitig und parallel ablaufen. Gerade hier zeigt Troy Duffy ein gewisses Gespür für Stil und fürchtet keineswegs das Groteske. Diese Sequenzen bilden aber auch die Ausnahme zu einem ansonsten eher mittelmäßig fotografierten Film, der den häufigen Vorwurf von "style-over-substance" eigentlich kaum Argumentationsgrundlage bietet. Genau an diesem Punkt sieht man: DER BLUTIGE PFAD GOTTES sollte (bewusst) eher als absurd-groteske Komödie denn als ernsthafter Action-Thriller gesehen werden.

Hier liegt auch der Hund begraben, was den kontroversen Inhalt betrifft. In Deutschland wurde der Film jahrelang unter dem Vorwurf indiziert, dass er Selbstjustiz glorifizieren würde. Solche unbegründeten Pauschalurteile sind natürlich immer lächerlich. Nur, weil man etwas zeigt, heisst es nicht, dass es glorifiziert wird. Da kann man gleich dem nächsten Sonntags-Tatort vorwerfen, er verherrliche Mord oder sagen, dass "Wetten, dass...?" das Laster des Glückspiels positiv darstelle. Letzteres stimmt ja im Grunde auch. Was DER BLUTIGE PFAD GOTTES betrifft: wer diesen Film als soziale Botschaft ernst nimmt, ist selbst blöd. Besonders angesichts dessen, dass er so Over-the-top und absurd-komisch daherkommt.

Aufmerksame Leser und Kenner des Films werden schon bemerkt haben, dass eine Sache bislang in dieser Besprechung noch nicht vorgekommen ist... Genau: Willem Dafoe. Dieser tolle Schauspieler spielt zwar mit fast jedem Film die Rolle seines Lebens - ob als Soldat, als Schauspieler-Vampir oder als Ehemann mit Blutejakulationen -, aber hier darf er, mit Verlaub, freestyle-mäßig abrocken und die Sau rauslassen wie noch nie in seiner Karriere und wie andere Darsteller nur selten die Gelegenheit bekommen. Paul Smecker: Special Agent des FBI, genialer Ermittler, arroganter Intellektueller, selbsthassender Homosexueller, selbsternannter Ästhet und Opernliebhaber. Seine Präsenz ist für alle anderen und alles andere bedrückend. Die Art und Weise, wie er die mit ihm zusammenarbeitenden Polizisten nonchalant zur Sau macht und zu Kaffee- und Snack-Schubsen degradiert, gehört zum vielleicht komischsten, was das amerikanische Kino der 1990er hervorgebracht hat: "Oh really? I might just be wanting a bagel with my coffee." Er ist das Gewicht in der Waage, das DER BLUTIGE PFAD GOTTES letztlich zum wirklich sehenswerten Film macht.

Namentanzen ist was für Waldorf-Schüler. Dafoe jedoch tanzt ganze Schießereien nach! Nicht verwunderlich ist es, dass ausgerechnet er den komplexesten Charakter des Films spielt: eigentlich die einzige Figur, die nicht comic-mäßig und eindimensional daherkommt. Eine zerrissene Persönlichkeit. Und eine Spiegelung des Regisseurs Troy Duffy? Denn gerade in Paul Smecker erkennt man möglicherweise am ehesten die Handschrift des "auteur" Duffy - so merkwürdig das auch klingen mag. Schließlich ist der Special Agent ein Mann, der sich für eine Kreuzung aus Jesus und Einstein hält und der wirklich jedem, der es hören möchte oder auch nicht, seine intellektuelle, berufliche, organisatorische, ja seine menschliche Überlegenheit unter die Nase reibt - gegebenenfalls auch mit Sarkasmus, Verhöhnungen und offenen Beleidigungen. Er ist ein Mann, der trotz all seines Sinns für überzogene Ästhetisierung (zum Beispiel zu Opernarien Tatorte untersuchen) gerne den unromantischen und harten Bad Boy raushängt (etwa kuschelbedürftige männliche Bettpartner als Schwuchteln beschimpfen). Smecker weiß, wie unglaublich gut und zugleich wie anfällig für Krisen er ist: deshalb geht er auch mal in die nächste Eckkneipe (also Szene-Schwulenbar), um sich richtig dreckig zu besaufen und hemmungslos rumzupöbeln. Wenn Smecker-Dafoe also das emotionale und persönliche Zentrum von DER BLUTIGE PFAD GOTTES ist, liegt es vielleicht daran, dass mehr von Duffy drinsteckt, als man bei der ersten Sichtung denken könnte. Kein Wunder also, dass das Sequel ALL SAINTS DAY so seelenlos erscheint.

DER BLUTIGE PFAD GOTTES ist kein Meisterwerk. Dafür ist er letztlich doch etwas zu formelhaft. Er ist aber auch nicht schlecht. Ganz besonders nicht, wenn man bedenkt, dass es das Projekt eines irischen Säufers und eingebildeten Möchtegerne-Rockstars ist, der noch niemals etwas mit Film zu tun hatte und der die meiste Zeit damit verbringt, Eckkneipen durch peinliches betrunkenes Benehmen unfrequentierbar zu machen.

DVD.
Die Veröffentlichung überrascht zunächst einmal durch eine richtig schick aufgemachte DVD in einem hübschen Pappschuber (ohne FSK-Gedenklogo bzw. mit Wendecover). Ton und Bild mit HD-Remastering sind exzellent. Auf der Haupt-DVD finden sich als Bonus einige Deleted Scenes in extrem schlechter Qualität und zwei Audiokommentare. Bemerkenswerter ist die Bonus-DVD, die die hochinteressante abendfüllende Dokumentation OVERSIGHT enthält: die Aufstiegs- und Fall-Geschichte des Regisseurs Troy Duffy.
DER BLUTIGE PFAD GOTTES wurde tatsächlich von einem kompletten Amateur gedreht: von einem grobschlächtigen und ziemlich prolligen Typen, der in einer Metal-Band spielte und als Barkeeper arbeitete, wenn er sich nicht gerade mit seinen Kumpels in der nächsten Kneipe volllaufen ließ und sich dabei komplett daneben benahm. In seiner Freizeit hat er auch einmal ein Drehbuch geschrieben, und eines Tages kam Harvey Weinstein von Miramax und wollte das Skript kaufen und verfilmen lassen. Vom Penner der Eckkneipe wurde Duffy zu Hollywoods neuestem Wunderkind.
Und vom "heißesten Scheiß" in Hollywood entwickelte sich Duffy zu einem arroganten Riesenarsch, dessen überdimensioniertes Ego alle Geschäfte ruinierte und nebenbei noch seine Freunde vor den Kopf stieß. Dann wurde er von Miramax doch fallen gelassen und drehte seinen Film mit der Hälfte des Budgets vollkommen unabhängig von Hollywood. Das Marketing des Films ging in die Hose, sein Bandprojekt scheiterte nicht grandios, sondern auf geradezu peinliche Weise. Duffy verschwand in der Versenkung (zumindest, bis er dann das Sequel drehte), und hatte gleich noch seine Freunde verloren.
Diese Geschichte kann man glauben. Oder auch nicht. Oder sich sehr viele Fragen stellen. In letzterem Fall sieht man vielleicht nicht das Portrait eines dämlichen Arschlochs, dessen ruppiger Umgang ihm zum Verhängnis wurde - die beiden Regisseure und ehemaligen Duffy-Freunde waren schließlich bestimmt nicht uneigennützig -, sondern einen erstaunlichen Beitrag über die Funktionsweise Hollywoods: DER BLUTIGE PFAD GOTTES erscheint in diesem Licht als ein fast unter den Teppich gekehrter Film, der dann wider Erwarten und vor allem aus Trotz dann doch noch gedreht worden ist.
OVERNIGHT ist eine interessante Doku, die freilich keine Fragen beantwortet, sondern eher viele neue entstehen lässt. Warum genau ist der Deal mit Miramax geplatzt? Was genau hat den Duffy zwischen der Begegnung mit Weinstein und dem Drehbeginn den ganzen lieben Tag so gemacht (außer im Büro zu sitzen und bei Dosenbier große Phrasen dreschen)? Wie kam der Film bis nach Cannes? Über diese und viele mehr Fragen bleibt die Doku erstaunlich unkonkret und zeigt lieber minutenlang den pöbelnden, aggressiven Duffy. Das ist unterhaltsam, beantwortet jedoch kaum Fragen und wirkt letztlich ziemlich frustrierend. Trotzdem ist OVERNIGHT intellektuell sehr viel anregender und lohnender als ein beliebiges "Der Dreh war so toll und wir haben uns alle lieb"-Making-Of.








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