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KAPITELWAHL

UNMORALISCHE GESCHICHTEN (Frankreich 1974)

von Björn Lahrmann

Original Titel. CONTES IMMORAUX
Laufzeit in Minuten. 99

Regie. WALERIAN BOROWCZYK
Drehbuch. ANDRÉ PIEYRE DE MANDIARGUES
Musik. MAURICE LEROUX
Kamera. BERNARD DAILLENCOURT . GUY DURBAN . NOËL VÉRY . MICHEL ZOLAT
Schnitt. WALERIAN BOROWCZYK
Darsteller. LISE DANVERS . FABRICE LUCHINI . PALOMA PICASSO . FLORENCE BELLAMY u.a.

Review Datum. 2012-11-25
Erscheinungsdatum. 2011-10-14
Vertrieb. BILDSTÖRUNG

Bildformat. 1.85:1 (anamorph)
Tonformat. DEUTSCH (DD 2.0) . FRANZÖSISCH (DD 2.0)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Für Sleaze- gilt dasselbe wie für Gorehounds: Man braucht eine gute Ausrede. Als ultimativer Showstopper jedes diesbezüglichen Streitgesprächs hat sich das Argument "Repräsentation = Aufklärung" bewährt, das ungefähr besagt, aus dem vermeintlich Depravierten sei eine wertvolle Lektion über die menschliche Natur zu ziehen. Historische Verbrieftheit ist dabei immer ein Plus: Die Abbildung tatsächlich stattgehabter Niedrigkeiten kann man - nach einer gewissen Verjahrhundertungsfrist - schlichtweg nicht kritisieren. Wie oft, um zum Punkt zu kommen, hat man den (freilich ganz und gar nicht lehrreichen) Kitzel, der einen beim Anblick bluttriefender nackter Jungfrauen überkommt, mit einem Verweis auf die Gräfin Bathory gerechtfertigt, die derlei Sauereien ja ganz wirklich und in echt und so, dass kein Film da jemals rankommen könne, getrieben hat?

Walerian Borowczyks UNMORALISCHE GESCHICHTEN hält sich mit Geilheitsrationalisierungen nicht auf, ist von ihnen aber schwer fasziniert. Alle vier Episoden basieren auf historischen oder literarischen Vorlagen, die dritte widmet sich der Bathory, und in jede ist eine Instanz der Prüderie und Lustfeindlichkeit - gern klerikaler Natur - eingebaut, über die Borowczyk dann mit gepflegter Ironie hinwegfilmen kann. In der ersten, schönsten Episode will ein Student seine jüngere Cousine verführen; sein Setup ist lachhaft elaboriert, pünktlich nach Gezeitenplan radelt man zur steigenden Flut ans Meer, wo er ihr nach allen Regeln der Kunst und Wissenschaft erläutert, wieso ausziehen und blasen jetzt genau das Richtige wäre. Noch während der Fellatio hält er Vorträge über die Mächte des Ozeans, fischt in der näherrückenden Gischt nach Metaphern für seinen Spermastand, versteckt seinen Genuß hinterm Vorwand sexueller Erziehung.

Gegen solch bemäntelndes Dozieren setzt Borowczyk den blanken, unverfrorenen Anschauungsunterricht am menschlichen (heißt: weiblichen) Körper. Die Gesamtheit der Anatomie, von Schulter bis Fessel über Backen und Lippen verschiedener Art, wird geduldigen Close-up-Blicken aus- und zu fleischlichen Mosaiken wieder zusammengesetzt. "Unmoralisch" ist das nicht im volkstümlichen Sinne - also anzüglich, schmierig, lasziv -, sondern weil die implizite Moral von der Geschicht' sich immer wieder der expliziten Ästhetik beugen muss: Es fällt schwer, angesichts der faszinierenden Benetzungseffekte der Bathory'schen Blutdusche (echt vom Schwein!) die dafür nötigen Jungfernopfer zu beklagen, schwerer noch, den Schimpfreden des Predigers Savonarola über den niederträchtigen Borgia-Clan zu folgen, während Lucrezia sich gerade mit Pfauenfedern die Nippel steif kitzeln lässt.

Pornografisch, selbst auf allersofteste Weise, ist UNMORALISCHE GESCHICHTEN indes nicht. Die einfachen Freuden des zwischen zupackender Derbheit und blümchenweicher Romantik schwankenden 70er-Jahre-Sexfilms sind Borowczyk fremd, sein Auge ist vielmehr das eines nüchterne Aktstudien betreibenden Malers. Wie ein bewegtes Courbet-Gemälde nimmt sich die zweite Episode aus: Gemüsemasturbation im rotgetäfelten Kirchenzimmer, weiße Haut unter weißem Nachthemd, zehn, fünfzehn Minuten lang. Für die im Vorfeld per Inhaltstäfelchen angekündigte Vergewaltigung fehlt hingegen Zeit und Interesse, am Ende stolpert noch für Sekundenbruchteile ein grunzender Mann aus dem Gebüsch, bevor sarkastisch die Schwarzblende eingreift: narratio interruptus. Tatsächliche "Geschichten" sucht man hier vergebens. Man kann das mit der punktuellen Konzentration eines Museumsbesuchers gut und angemessen finden. Man kann aber auch, wie ich, mit jeder Episode ein bisschen mehr den Langmut mit Borowczyks elegantem Defilee nackter Körper verlieren und sich nach profaneren Erzählkinoreizen sehnen.

DVD.
Spektakulärer Transfer; insbesondere Teil 1 und 3 sind derart detailsatt, dass man jede makellose Hautpore einzeln zählen könnte. Mit Hintergrundmaterial geizt Bildstörung wie gewohnt nicht: Der Kurzfilm UNE COLLECTION PARTICULIÈRE präsentiert kuriose Flohmarktpornografica; Regieassistentin Dominique Duvergé und Kameramann Noël Véry (wie schon bei LA BÊTE - DIE BESTIE nie um zünftiges Boro-Bashing verlegen) erinnern sich an die Dreharbeiten; und Daniel Bird steuert einen Audiokommentar nebst umfangreichem Begleitessay bei.








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