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KAPITELWAHL

CARMENS REINE LIEBE (Japan 1952)

von Björn Lahrmann

Original Titel. CARMEN JUNJÔ-SU
Laufzeit in Minuten. 98

Regie. KEISUKE KINOSHITA
Drehbuch. KEISUKE KINOSHITA
Musik. CHÛJI KINOSHITA . TOSHIRÔ MAYUZUMI . GEORGES BIZET
Kamera. HIROYUKI KUSUDA
Schnitt. YOSHI SUGIHARA
Darsteller. HIDEKO TAKAMINE . MASAO WAKAHARA . CHIKAGE AWASHIMA . THOSHIKO KOBAYASHI u.a.

Review Datum. 2010-09-13
Erscheinungsdatum. 2010-05-14
Vertrieb. POLYFILM/ALIVE

Bildformat. 1.33:1
Tonformat. JAPANISCH (DD 2.0)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Wenn die Hymne zum Nachruf wird: Vor nicht ganz einem Jahr wagte Polyfilm Video mit der Edition 'Japanische Meisterregisseure' eines der sicher ehrgeizigsten Unterfangen auf dem hiesigen DVD-Markt. Jetzt wird die Reihe, nach immerhin der Hälfte von 22 geplanten Titeln, eingestellt, Grund ist, da muss man nicht lang rumrätseln, der schwache Absatz. Konkret durch die Lappen gehen somit elf Filme des großen Yasujiro Ozu, mithin die ersten, die jemals im deutschen Sprachraum erschienen wären. Ich müsste lügen, würde ich nicht mit allergrößtem Frust gestehen: Darauf hatte ich mich am meisten gefreut, so sehr wie auf keine andere Veröffentlichung der jüngeren Zeit. Ob die Reihe, wäre sie direkt mit Ozu eingestiegen, von dessen (relativem) Bekanntheitsgrad hätte zehren können, oder ob man umso empfindlicher zu spüren bekommen hätte, in wie kleinen Kreisen man sich eigentlich bewegt… ach, jetzt ist's ja auch egal, und ungeheuer schade drum.

Bleiben noch vier letzte Titel von Keisuke Kinoshita, angefangen mit CARMENS REINE LIEBE, dem Nachfolger des bereits veröffentlichten CARMEN KEHRT HEIM. Ein schräger Film in mehr als nur einer Hinsicht, allein schon sequellogisch aus heutiger Perspektive purer Irrsinn: Statt der Formel des ersten Teils treu zu bleiben, wechselt Kinoshita radikal das Register, schwarzweiß statt Farbe, Elend statt Glamour. Carmen (Hideko Takamine) und ihre Freundin Akemi sind zurück in Tokio, ihre gemeinsame Wohnung ist ein beengtes Zimmer in einem monströsen Bauklotz. Die eine tanzt, die andere nicht: Während Carmen mit anzüglichen Vaudeville-Auftritten - halb Bizet, halb Striptease - das nötige Kleingeld zusammenkratzt, muss Akemi, offenbar von einem Freier geschwängert, sich um ihr unentwegt schreiendes Baby kümmern. Musik, Humor und wild gemusterte Überblendungen vermögen die Situation kaum aufzulockern, sie stehen vielmehr schmerzhaft quer zum gnadenlos unverstellten Blick auf die Nachkriegswirklichkeit. Ein Drahtseilakt, der an die große Vorbilder Jean Renoir und René Clair erinnert.

Schräg ist CARMENS REINE LIEBE aber auch sehr buchstäblich. Nahezu jede Einstellung ist um plusminus 45° angekippt, mal links-, mal rechtslastig, und wo sich für Sekunden eine Waagerechte einschmuggelt, wird der Neigungswinkel flugs nachjustiert. Ebene Straßen werden so zu Sisyphosbergen, Häuser zu im Sturz eingefrorenen Pisa-Türmen. Schon damals muss Kinoshitas Experimentierfreude (u.a. drehte er einen kompletten Film durch eine Kreisvignette) ein wenig primitivistisch und überkonsequent gewirkt haben. Die Welt ist aus den Fugen, und am Kino ist es nicht, sie einzurenken. Die "reine Liebe" des Titels entpuppt sich folglich als blanker Hohn: Carmen verfällt einem blasierten Künstler-Lothario, der sich gelangweilt durch alle sozialen Schichten vögelt. Akt stehen soll sie ihm, aufsparen will sie sich, ohne zu bemerken, dass "Liebe" als einzig ihr verbliebenes Gut in diesen Kreisen billig zu haben ist: Ein Bastardkind hält man sich per Abfindung vom Leib, die Prestigehochzeit mit einer kaltherzigen High-Society-Erbin steht kurz bevor.

Der frivole Verwechslungsschwank, nach dem diese Konstellation unweigerlich schreit, bleibt schon im Ansatz stecken, weil vom designierten Ehepaar niemand ernsthaft Monogamie erwartet. Die "Reinheit" der Verbindung ist ausschließlich eine Sache sexualpolitischer Hygiene: Frau Satake, die Mutter der Braut, kandidiert für eine nationalistische Partei, predigt Patriotismus und Aufrüstung und kann schlechte Presse nicht brauchen. Volksnah und potthässlich, mit Pferdegebiss und behaarter Warze, schwingt sie ihre erste Wahlkampfrede auf Carmens Varietébühne: Politik und Boulevard in formvollendetem Anschleimverhältnis. Tatsächlich sind von der alten Nation nur noch ins Lachhafte verzerrte Traumata übrig geblieben: Generalswitwe Satake beschäftigt einen ehemaligen Oberst als Butler, der mit dem Kehrbesen salutiert, und die Mamsell des Künstlers faselt allenthalben willkürlich von der Atombombe.

Bildeten Tradition und Moderne im Vorgängerfilm noch je gangbare Alternativen, sind hier gleich beide unmöglich geworden, die Vergangenheit zur Zwangsneurose versteift, die Zukunft voll falscher Hoffnungen. Als warenförmige Chimäre zeichnet Kinoshita die fortschreitende Verwestlichung, ein System absurder Demütigungen, wo man für einen Hungerlohn als kostümiertes Werbemaskottchen jene Produkte verkörpert, die man sich hinterher selber nicht leisten kann. Eine wie Carmen kann in dieser Welt keine Hauptrolle spielen und ist denn auch, selbst innerhalb der Filmerzählung, völlig marginalisiert. Die generische Romanze, die der Titel ihr verspricht, bleibt Wunsch- und Wahnvorstellung; tatsächlich hält der Künstler sie für nichts als eine stupide Gans, und den Gefallen, diese Ansicht hinreichend zu widerlegen, tut der Film dem Zuschauer auch nicht. Am Ende verschwindet Carmen in der Menge, eine bittere Texteinblendung ruft ihr noch "Viel Glück" hinterher. Einen dritten Teil hat es nie gegeben.

DVD.
Wie üblich gibt es - bis auf den Mangel an Bonusmaterial - wenig zu beanstanden: knackige Kontraste, kaum Altersspuren. Nicht ganz fehlerfrei allerdings die Untertitel, Tipp- und andere Flüchtigkeitsfehler sind über die gesamte Filmlänge verteilt.








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