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KAPITELWAHL

ULRICH SEIDL EDITION (Österreich 1992-2007)

von Björn Lahrmann

Original Titel. ULRICH SEIDL EDITION
Laufzeit in Minuten. 630

Regie. ULRICH SEIDL
Drehbuch. ULRICH SEIDL . VERONIKA FRANZ . MICHAEL GLAWOGGER
Musik. nicht bekannt
Kamera. PETER ZEITLINGER . HANS SELIKOVSKY . WOLFGANG THALER
Schnitt. CHRISTOPH SCHERTENLEIB
Darsteller. MARIA HOFSTÄTTER . GEORG FRIEDRICH . EKATERYNA RAK . PAUL HOFFMANN u.a.

Review Datum. 2010-06-29
Erscheinungsdatum. 2010-04-16
Vertrieb. ALAMODE-FILM/ALIVE

Bildformat. 1.33:1/1.85:1 (anamorph)
Tonformat. DEUTSCH (DD 5.1/DD 2.0)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Dass man sich die Menschen in Ulrich Seidls Filmen nicht ausdenken kann, heißt nicht, dass sie echt sind. Das Leben spielt sich vielmehr selbst auf verzerrte Weise, ergibt sich lustvoll und schonungslos einer Inszenierung des Authentischen, von der man gar nicht mehr wissen will, wie real sie eigentlich ist. Dokumentationen sind Seidls Arbeiten – ob geskriptet oder nicht, ob mit professionellen Darstellern besetzt oder mit Laien – höchstens insofern sie Zeugnis ablegen von den Selbstbildern, die seine Protagonisten von sich angefertigt haben.

DER BUSENFREUND etwa, ein arbeitsloser Lehrer im gelben Pullunder, hält sich für einen ausgewiesenen Gourmet und Kenner der weiblichen Brust. Seidl gibt ihm das verlorene Podium zurück; vor im Off hüstelnden Schülern darf er enthusiastisch über Senta Bergers Titten philosophieren. Über seine mal kruden, mal kreativen Sexismen ist ebenso gut Lachen wie Schaudern ist über seine häusliche Situation: Zwischen Altpapierbergen haust er mit seiner gebrechlichen Mutter in einer sadomasochistischen Zwangskonfiguration, ein im Grunde armes Würstchen von eklatanter Selbstüberschätzung (Wunschberuf: "Diktator oder Bürgermeister"). Stolz gewesen sein wird er trotzdem auf den Film.

Immer wieder die Frage: Darf man das? Solche Menschen so zeigen? Muss man sie nicht schützen vor medialer Ausbeutung, von sich selbst ganz zu schweigen? Seidls Werk gibt darauf keine Antwort, weil die Frage falsch ist. Wie jemand zu sein, sich öffentlich zu präsentieren hat – diese Entscheidung liegt nicht beim Regisseur. Er urteilt nie, duldet alles. Seine Filme sind frei von narrativen Tricks, Effekten, Musik; alle Verantwortung trägt die Kamera. Die Insistenz des Blicks, sein oftmals als brutal und skrupellos empfundenes Hin- und Nicht-Wegschauen ist in Wahrheit eine Respektsgeste, die besagt: Jeder soll nach seiner Façon unglücklich werden.

Seidls Lieblingssubjekte sind Menschen, die sich in einem Gefängnis aus Obsessionen verkerkert haben. Der Fernsehbeitrag SPASS OHNE GRENZEN, der in der vorliegenden DVD-Box leider nicht enthalten ist, erzählt von einer Frau, die nach einem schweren Trauma ihr Leben in Freizeitparks verbringt. Hinter der Ironie des Titels verbirgt sich ein Kernpunkt von Seidls Programm: Die Grenzen, die Menschen umeinander ziehen, hinter denen alle Lebensfreude erstickt. Formal liebt er nicht umsonst das Symmetrische; wie ein wohlmeinender Gefängniswärter steckt er seine Figuren in gemäldehaft arrangierte Rahmen, zentralperspektivische tableaux vivants, die nach Porträtmanier die Seidlfamilie konstituieren. Nicht die Figuren entblößt Seidl in seinen Filmen, sondern die Rahmen, innerhalb derer sie gefangen sind.

TIERISCHE LIEBE – notorisch geworden durch ein Zitat Werner Herzogs, der bekundete, nie tiefer in die Hölle geschaut zu haben – zeigt in bedrückenden Vignetten eine handvoll Randexistenzen und ihre Haustiere, die als Ersatz herhalten müssen für ein in Trümmern liegendes soziales Umfeld, als Kinder, Sklaven, Freunde, Liebhaber. Ein frisch getrenntes Paar teilt sich den Mops, mit dem sich ein Partner gegen den anderen zu verbünden sucht. Eine einsame Diva hockt weinend in einem Haufen alter Liebesbriefe und tröstet sich mit ihrem Labrador. Sich anbahnende Sodomie beobachtet Seidl mit ebenso stoischer Offenheit wie den traurigen Telefonsex eines Rentners. Lust und Triebe sind das Kardinalthema eigentlich all seiner Werke, weil nirgends sonst die offizielle Demarkationslinie zwischen gesund und krank, normal und abartig so gleitend verläuft.

MODELS ist ein weiterer Film über beschissene Liebe und spielt zum Großteil auf Toiletten. Zwischen Quickie, Rausch und Fotoshoot folgt Seidl vier Wiener Plastikmädchen mit großen Brüsten und mikroskopischem Selbstwertgefühl. In eisblauen Bildern lassen sie sich demütigen von eklen Fotografen und beichten einander im Sonnenstudio ihre Sehnsüchte. Die Kameralinse wird zum Spiegel, in dem man sich schminkt, Koks schnupft, brutal den eigenen Körper Maß nimmt. Die sonst eher frei-assoziative Erzählweise weicht hier einem auf Dauer abstumpfenden Tunnelblick, der sich in milieugetreuer Stereotypenbebilderung festfährt: Ach welch hässlich' Angelegenheit ist das Geschäft mit der Schönheit! Ein Film, so sexy wie kalte Asche.

Von der bitteren Zärtlichkeit, die Seidls Blick auf menschliches Elend leitet, ist in HUNDSTAGE nicht mehr viel übrig. Innerhalb eines nunmehr rein fiktiven Szenarios lässt er die Zügel des dokumentarischen Gewissens schleifen und übt sich in einer radikalen Ästhetik des Unansehnlichen; insbesondere sein Faible für nackte, groteske Körper gerinnt hier beinahe zum Klischee. Der Film entwirft ein Panoptikum missgünstiger Spießbürger, die sich an wenigen Hochsommertagen das Vorstadtleben zur Hölle machen. Mehr als an der Tristesse innerhalb privater Grenzen ist HUNDSTAGE daran interessiert, was geschieht, wenn diese Grenzen übertreten werden: wenn etwa eine Frau mit ihrem Liebhaber vorm gehörnten Ehemann herumscharwenzelt; oder eine Anhalterin Leute mit unverschämten Fragen und Schlagerkassetten belästigt. Die bösartige Freude an Brandstiftung und Eskalation – Knarre im Anschlag, Kerze im Arsch – macht HUNDSTAGE nicht nur zu Seidls abstoßendstem, sondern auch effektivsten Film.

Einen eleganten Rahmen um die Box ziehen der jüngste und älteste Beitrag, zwei Filme, die von konkret geographischen Grenzüberschreitungen handeln. MIT VERLUST IST ZU RECHNEN von 1992 erzählt eine skurrile Nachwendegeschichte: Im tschechischen Grenzgebiet wirbt ein verstockter österreichischer Witwer um eine resolute Dame von drüben. Bilaterale Besuche öffnen die Augen für den jeweiligen Lebensraum, man staunt nicht schlecht über sozialistischen Verfall und "färbige" Fernseher. Von rührender Lächerlichkeit ist ein Date auf dem Rummel, hinreißend komisch die Kaffeekränzchen der Tschechin mit ihrer sexbesessenen Freundin. Arg manieristisch wirken dagegen zahlreiche Attraktionsmontagen von ärmlichen Hinterhöfen, Hühnerschlachtungen und westlichen Luxuswohnzimmern.

IMPORT/EXPORT tut einiges dafür, diese simple Ost-West-Dichotomie aufzuweichen. Eine ukrainische Krankenschwester sucht ihr Glück in Österreich, ein österreichischer Nachtwächter in der Ukraine. Beide lernen sie schnell, dass das Gras auf der anderen Seite nicht minder welk und zertreten ist. Seidls kompositorische Strenge kündet von einer ausgewogen zum Schlechten globalisierten Welt. Auf dem Arbeitsmarkt wird pflichtschuldig das Individuum ausgetrieben, reduziert auf Körperöffnungen in Internetpornobaracken, in Putzkolonnen hinter grellen Uniformen versteckt. Mit ungetrübtem Blick fängt Seidl Erniedrigungen im Niedriglohnsektor ein, aber auch das bisschen Würde, das seine Protagonisten ihrer depravierten Situation abzutrotzen vermögen. Unvergesslich die Szenen aus einem geriatrischen Krankenhaus, wo ein Chor aus Dementen einen dämmerhirnigen Geräuschkanon singt. In der menschlichen Komödie, die das Kino von Ulrich Seidl ist, haben die Hilflosen stets das letzte Wort.

DVD.
Rein äußerlich kann die Box von Alamode Film sich sehen lassen: Sechs Slim Cases im minimalistisch designten blauen Pappschuber; sogar das rote FSK-Siegel passt mit etwas gutem Willen ins Konzept. Die Filme präsentieren sich in je angemessener Qualität, DER BUSENFREUND z.B. von polierter Glätte, MIT VERLUST IST ZU RECHNEN dagegen eher schmutzig und grainy. Die deutschen Untertitel sind bitter nötig, bei HUNDSTAGE und IMPORT/EXPORT jedoch nur punktuell (d.h. bei dialektal besonders stark gefärbten Sätzen) vorhanden; die Auswahl übersetzungswürdiger Passagen ist dabei nicht nur willkürlich, sondern stört in ihrer Unregelmäßigkeit auch massiv die Konzentration.
Das im Rahmen einer Werkschau eher knauserige Bonusmaterial umfasst Trailer, kurze Interviews mit Seidl und Kameramann Ed Lachman (auf deren eher simpel-didaktische Eigeneinschätzung man nicht zwingend hören sollte) sowie den frühen Kurzfilm DER BALL, ein Provinzporträt, das deutlich schelmisch-gemeiner ausfällt als Seidls reifere Arbeiten. Bei einem Schülertanzabend wird von den örtlichen Honoratioren allerlei Rührseliges über die Freiheit der Jugend abgesondert, während die Maturanden, gelangweilt und desillusioniert, soziale Zwänge und Regeln auflisten. Am Ende saufen die Alten alleine.








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