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Die Luft unter den mit Fichtenreisig beklebten Pressspanplatten ist dick wie eingekochte Marmelade. Die Hände fest ums Kamera-Stativ gekrallt, so fest, dass man die Fingerknöchel weiß hervortreten sieht, harren wir aus. Der Tipp den uns der serbische Straßenhändler mit den Wandfarbeplastikeimern voller Pfifferlinge gegeben hat war gut. Auch wenn das Moos auf dem wir hier liegen juckt, als würde gerade eine Kolonie Waldameisen ihren Bau wechseln; das ist ein verdammter Braunbär da vor uns. Ganze zwölf Stunden steckt er jetzt schon mit seiner Pfote im Fangeisen fest und doch ist es erst knappe zehn Minuten her, dass er ernsthaft damit begonnen hat sich aus seiner misslichen Lage zu befreien, sprich: sich zunächst noch recht zögerlich, dann zunehmend entschlossener, die Pfote abtrennt.
Von der sich wie ein gigantisches Viadukt über unseren Köpfen durchs Tal schlängelnden Autobahnbrücke, dröhnt das gleichmäßige Rauschen des Fernverkehrs zu uns hinunter. Beim Versuch mein Gewicht zu verlagern, reißt mir der scharfkantige Boden einer weggeworfenen Bierflasche knapp über dem Knie die Hose auf. Überall liegt hier Müll. Zwischen dem zerfetzten LKW-Reifen zu meiner Rechten, sehe ich einen verdammten Kinderschulranzen mit von der Sonne ausgebleichten rosa Einhörnern bestickt, der einer Erdkröte als Unterschlupf dient. Um den einen großen wahren Moment einzufangen, braucht es mehr als Geduld. Für das eine große Bild braucht es einen Willen, der stärker ist als der Druck deiner Blase, stärker als die Waldameisen und der Schweiß, die sich in deinem Nacken sammeln.
Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist. In IMPORT/EXPORT hat Ulrich Seidl so lange draufgehalten bis die Wahrheit gar nicht mehr anders konnte, als aus ihrem Versteck zu kriechen. Sie hatte eigentlich gar keine andere Wahl. Seidls Blick auf sie war einfach zu ausdauernd, zu unvoreingenommen. Beinahe zwei Jahre hat er gedreht und nichts aber auch wirklich gar nichts ausgelassen. Der nun fertige Film erzählt in glasklaren Bildern von einer Gegenbewegung. Da ist Olga, Krankenschwester in der Ukraine, die nach der eher unschönen Erfahrung mit Webcam-Prostitution nach Österreich geht. Und da ist der Wiener Paul, der Kampfhunde und Karate liebt, als Supermarktwächter versagt und seinem Stiefvater in die Ukraine folgt, um dort im Winter Kaugummiautomaten aufzustellen.
Die einzelnen Episoden durch die Seidl seine beiden Hauptdarsteller dabei schickt sind von solch überwältigender Härte, aber auch Klarheit, Schönheit und Größe, dass auch noch der Skeptischste alles um sich herum vergisst, der noch so abgestumpfteste, zynische Betrachter Rührung spürt und noch der Voreingenommenste etwas Neues lernt.
Nicht wenige werden sich nach diesem Film aufgebracht fühlen, wie lange nicht mehr. Zwingt uns der Film doch nicht nur in einer Art und Weise zum Hingucken, die keine Distanz kennt, hier gibt es auch keinen der einem, beispielsweise mit klassischen Mitteln des Erzählkinos, das Händchen hält. Gleich in der ersten Szene sehen wir drei Krankenschwestern, die beruhigend auf einen verletzten Säugling einreden, den sie gerade versorgen. Echte Schwestern, ein echtes ukrainisches Krankenhaus und vor allem ein echtes Baby. Keine Schauspielerinnen, die mit engagiertem Gesichtausdruck Krankenschwestern spielen. Keine Babypuppe.
Dadurch dass der Film nie, auch nicht in einer der noch sehr viel drastischeren Szenen, die dann folgen, sagt wir hätten Mitleid zu empfinden, so wie Filme das für gewöhnlich tun, sei es durch den Einsatz von mitfühlender Musik, die Besetzung positiver Identifikationsfiguren in der Rolle der Helfenden oder Geschundenen oder eben ganz banal durch einen Off-Sprecher. Dadurch ist man im ersten Moment versucht, gerade dieses aufgezwungene nicht eingreifen können, diese scheinbare Unberührtheit der Inszenierung, als nihilistisches zur Schau stellen einer kaputten Welt zu unterstellen.
Schaut man jedoch genau hin, nicht nur auf die Leinwand, sondern auch auf sich selber, verkehrt sich diese Unterstellung geradezu ins Gegenteil. Ist es nicht viel zynischer, zu glauben ein Film müsste einem erst suggerieren was man zu fühlen hat, damit man echte Anteilnahme empfindet? Tritt diese vielmehr (und vor allem sehr viel authentischer) nicht eher in der unverfälschten Konfrontation hervor?
Indem es uns der Film selbst überlässt, wie wir auf ihn reagieren, ist es eben gerade nicht das Lachen von Ulrich Seidl das erklingt, wenn wir im Sterben liegende Geritariepatienten als Clowns geschminkt sehen. Das müssen wir dann schon ganz mit uns selbst ausmachen, ob es ein überhebliches Lachen ist, was dann erklingt. Vielleicht Lachen wir ja auch über das Absurde, das immer auch im Elend mitschwingt, vielleicht verharren wir aber auch nur ganz erstarrt in unseren Kinosesseln, liegen wir doch mit im Dreck und vermögen es nicht uns zu rühren, während der Bär seine Zähne in Fleisch der eigenen Pfote schlägt.
IMPORT/EXPORT reflektiert diesen ja auch inszenierten Blick mehrfach. Szenen wie beispielsweise die doppelte Inszenierung in der Webcam-Porno-Szene, bei der die Anweisungen des Internetfreiers zu Regieanweisungen werden. Noch deutlicher später in der mehr als grausamen Inszenierung der eigenen, vermeintlichen Macht, in der Szene mit der Hure im Hotelzimmer. Die sich, wie so oft bei Seidl, zu einem nicht minder gnadenlosen Blick auf die eigene Ohnmacht wandelt.
Seidl ist ein Perfektionist von kubrickscher Größe, der nicht zögert bei minus 20 Grad in der Plattenbau-Wohnung seiner Hauptdarstellerin die Heizung abzuklemmen, damit wir ihren Atem sehen können, wenn sie ihr Baby in der Küche sitzend in den Schlaf wiegt. In seiner Konsequenz, gerade auch was das bedingungslose Bestehen auf Originalschauplätze angeht, erinnert er dabei oft ein wenig an Werner Herzog, den abenteuerlichen Grenzgänger des Dokumentarfilms. Mit Michael Haneke mag er die Auseinandersetzung mit dem Einbruch von für gemeinhin Verdrängtem in unser direktes Umfeld teilen. Doch tut er das mit einer ganz eigenen Stimme, die das Kino in diesem Jahr zwei große Schritte nach vorne machen lässt.
Mit IMPORT/EXPORT gelingt es Seidl endgültig, seinen festen Platz an der Spitze der derzeitigen Autorenfilmer vom Schlage Trier, Almodovar, Verhoeven oder eben auch Haneke zu behaupten. Kein Film, sei er nun aus Europa oder sonst wo, wird in den nächsten zwölf Monaten tiefere Spuren zurücklassen.
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