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FILM.
Immer obskurer werden die Untiefen, die Polyfilm mit seiner hochinteressanten Japan-Reihe auslotet. Auf SING A SONG OF SEX von 1967 folgt jetzt ein weiteres Ôshima-Werk aus demselben Jahr, und ein echter editorischer Coup noch dazu: DIE NACHT DES MÖRDERS, eine völlig bizarre Mixtur aus ALPHAVILLE, Sartres Geschlossener Gesellschaft und urbanem Western, galt bis dato als verschollen und selbst in hartnäckigen cinephilen Kreisen als unbekannt.
Es beginnt mit Bildern wie aus einem Endzeitfilm: Ein unwirklich entvölkerter Highway, dahinter die Wolkenkratzerlinie einer modernen Großstadt. Die Sonne steht hoch, kein Geräusch auf der Tonspur. Am Horizont erscheint eine einsame Gestalt, ein stämmiges, attraktives, überaus notgeiles Mädchen. In dieser Welt aber hat der Tod dem Sex den Rang abgelaufen, buchstäblich kein Schwanz interessiert sich für ihre klar und deutlich artikulierte Wollust. Als sie in der asphaltierten Einöde endlich auf einen Mann trifft, entpuppt der sich als Lebensmüder, der den eigenen Suizid nicht bewerkstelligt kriegt. Zusammen brechen sie auf, ihrer beider Sehnsüchte zu stillen.
DIE NACHT DES MÖRDERS entwirft eine Dystopie, in der bis auf den nackten Trieb sämtliche sinn- und identitätsstiftende Instanzen verloren gegangen sind. Keine Figur hier hat einen Namen, bloß ihren Körper zum Ausweis; leitmotivisch gerät immer wieder die menschliche Form als Silhouette in den Blick, als Kreidezeichnung am Boden oder Abdruck in der Erde, als letztes "Schriftzeichen" an einer frisch übermalten Klosettwand, wo vormals politische Parolen prangten. Politik und Religion, wie überhaupt jegliche Art von Kommunität, sind praktisch ausgestorben (insofern treibt der Film die asoziale Gleichgültigkeit von SING A SONG OF SEX auf die Spitze); vielmehr sorgt eine radikale Interessenvereinzelung dafür, dass das eigene Begehren – von sich aus unerfüllbar – niemals mit dem Begehren der anderen zusammenfällt: Das Mädchen will nichts als vögeln, der junge Mann nichts als sterben. Füreinander tun können sie nichts.
Alsbald geraten sie an eine Bande hochgerüsteter Yakuza, von denen sie mit anderen passionierten Egoisten in ein katakombenhaftes Lagerhaus gesperrt werden. Dabei: ein dicker Dolchmörder, der über die Schönheit des Schlitzens philosophiert, und ein nervöser junger Waffennarr, der an Ballerentzug leidet. (Gewissermaßen eine Vorstufe der hochspezialisierten Nerdkultur.) Im breiten Mittelteil des Films werden ihre Obsessionen wieder und wieder aufeinander gehetzt, von Ôshima brillant inszeniert mit brutalen Reißschwenk-Backpfeifen in maximal kontrastiertem Schwarzweiß. Dass es sich dabei im Grunde um existenzialistisches Typentheater handelt, ohne allzu großen dramatischen Spielraum und arg stolz auf die eigene parabelhafte Pfiffigkeit, lässt sich gütlich übersehen, zumal DIE NACHT DES MÖRDERS in einem wahnwitzigen Schlussakt gipfelt, der zu den Höhepunkten in Ôshimas Schaffen zählt.
Eine Fernsehnachricht reißt die Gruppe aus ihrer Lethargie: In der Innenstadt erschießt ein Amokläufer wahllos Menschen. Sofort erkennt ein jeder seinen persönlichen Erlöser in ihm, man pilgert los, sich vor Ort in die Schussbahn zu werfen. Ein hochspannender Showdown von geradezu Hawks'scher Präzision gelingt Ôshima hier, versehen noch mit einer grimmigen Punchline: Der Schütze ist ein weißer Amerikaner. Auf der Mattscheibe posiert er wie ein Actionheld, der Sprecher bemüht Vergleiche mit dem Kennedy-Attentat und den Detroiter Unruhen des Long Hot American Summer (der Originaltitel, Japanischer Sommer, nimmt direkt Bezug darauf). Alles nichts als leere popkulturelle Referenzen: In den Taten des Amokläufers artikulieren sich weder politischer Unmut noch ziviles Aufbegehren. Gefragt, wieso er ein Blutbad anrichte, lautet seine Antwort so unheimlich wie einleuchtend: "I'm 20."
DVD.
Zwar wie üblich ganz ohne Extras, ist die Scheibe qualitativ erneut ein reines Vergnügen: Dem Seltenheitsgrad des Films zum Trotz ist das vom Master neu abgenommene Bild glasklar, kontrastsatt und von Gebrauchsspuren vollständig frei. Die Tonspur ist ebenfalls erstaunlich differenziert und sauber, auf Hintergrundrauschen horcht man vergeblich.
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