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KAPITELWAHL

NACHT UND NEBEL ÜBER JAPAN (Japan 1960)

von Björn Lahrmann

Original Titel. NIHON NO YORU TO KIRI
Laufzeit in Minuten. 103

Regie. NAGISA ÔSHIMA
Drehbuch. TOSHIRÔ ISHIDÔ . NAGISA ÔSHIMA
Musik. RIICHIRO MANABE
Kamera. TAKASHI KAWAMATA
Schnitt. KEIICHI URAOKA
Darsteller. MIYUKI KUWANO . FUMIO WATANABE . HIROSHI AKUTAGAWA . SHINKO UJIIE u.a.

Review Datum. 2010-04-06
Erscheinungsdatum. 2010-02-19
Vertrieb. POLYFILM/ALIVE

Bildformat. 2.35:1 (anamorph)
Tonformat. JAPANISCH (DD 1.0)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Was selten vorkommt, durchaus aber hin und wieder geschieht: dass IMDb-Kommentatoren einen Film auf den Punkt bringen. Im vorliegenden Fall nennt der User sich Meganeguard und überschreibt seine (durchaus positiv gemeinten) Einlassungen zu Nagisa Ôshimas Frühwerk NACHT UND NEBEL ÜBER JAPAN wie folgt: "Marx, blah, blah, Stalin, blah, blah, Revolution!" Das ist, als Dreischritt gefasst, das ewige Dilemma der politischen Linken: Zum Auftakt Marx'sche Linientreue, mittelfristig stalinistische Verhältnissen, und alles mündet im euphorischen Ausruf einer Revolution, die blutig und folgenlos verhallt. Dazwischen: viel eitles Geschwätz. Als illustratives Beispiel dieser schicksalhaften Niedergangslogik dient Ôshima die japanische Protestbewegung der frühen 50er Jahre, der er als Studentenführer auch selber angehörte.

Vom Zunder persönlicher Frustration befeuert, erhebt seine vierte Regiearbeit Ôshima vom Studio-Handwerker zum grimmigen politischen Auteur. NACHT UND NEBEL ÜBER JAPAN ist aber auch ein Film, dessen theorielastige Fußnoten den Fließtext auf genussfeindliche Weise ins Stocken bringen, einer, dessen Sichtung sehr bald zur zähen enzyklopädischen Trockenübung wird. Faules, desinteressiertes, bourgeoises Schwein, das ich bin, ist mir das zu wenig (oder zu viel, je nachdem). Dennoch kurz die Faktenlage: Zengakuren nennt sich der Verband kommunistischer Studenten, der während des Kalten Krieges gegen eine West-Annäherung Japans zu Felde zieht; besonders gewaltsam demonstriert man gegen den Sicherheitspakt mit den USA, der 1951 geschlossen und 1960 – zeitnah zum Kinostart – erneuert wird. So steht es bei Wikipedia. Aufgrund des aufgeheizten politischen Klimas entschloss sich Shochiku dazu, den brandaktuellen Film bereits nach drei Tagen wieder auf Eis zu legen. So steht es auf dem Rückcover der DVD.

Ôshima arrangiert seine bittere Geschichtslektion um ein Pärchen ehemaliger Aktivisten, deren Hochzeitsfeier zur Totenwache verratener Ideale gerät. Ein enttäuschter Genosse sprengt die Veranstaltung mit einem flammenden J'accuse an die versammelte Tischgesellschaft. Parolensatte Monologe werden gehalten, Anklagen, Rechtfertigungen, Debattierclub-Dialektik. In achronologisch verpuzzleten Rückblenden fächert sich die kommunardische Vergangenheit der Brautleute auf, die fruchtlosen Diskussionen um fitzelige Doktrinauslegungen, die zermürbenden Kurswechsel zwischen friedlichem Protest und Waffengang, der schleichende Zerfall in unzählige Splittergruppen. Umständlich eingeflochtene Episoden – um den Tod eines Freundes, die Infiltration durch einen Spitzel – tragen schwer an ihrem Exempelcharakter. Wie immer bei Ôshima ist Politik vehement sexuell, Sex vehement politisch codiert, bis irgendwann das eine das andere unmöglich macht. Die Ehe, in die sich ausgerechnet die Parteiführer als erste flüchten, zähmt beide Triebe gleichermaßen; sie verkommen, anders gesagt, zu faulen, desinteressierten, bourgeoisen Schweinen.

Die beizeiten verwirrend fragmentarische Erzählung konterkariert Ôshima mit klassizistischen Inszenierungsformen. Einen Vergleich mit der Nouvelle Vague fordert er dabei allein schon durch den bei Alain Resnais abgeluchsten Titel heraus. Wo jedoch die Franzosen ihren Filmen mit Genre, Jazz und Jump Cuts auf die avantgardistischen Sprünge halfen, sind Ôshimas V-Effekte selber schon historisch verbürgt: Immer wieder lässt er seine Räume in plötzliche Dunkelheit fallen, aus der sich einzelne Gesichter per Brecht'schem Spotlight aussondern. Die meisten Szenen bestehen aus durchgängigen, höchst kunstvollen Tracking Shots (Einstellungen: 45, Durchschnittslänge: 2 ½ Minuten), eigentlich eine Paradedisziplin des alten Hollywood, hier in sarkastischer Perfektion nachgeahmt. Kamerabewegungen unterstreichen die narrativen Konflikte wie Zeiggesten: Der erste Schwenk geht vom Brautpaar nach links durch die Gästeschar, zur Mitte zurück, nach rechts durch die Gästeschar und zur Tür hinaus; der angedeutete Kreis formt sich nie.

NACHT UND NEBEL ÜBER JAPAN ist ein Pionierwerk linkspolitischen New-Wave-Kinos der 60er, geboren aus (aber auch: fest verwurzelt in) einer historisch einmalig frühen Konstellation. Wo in anderen Teilen der Welt radikale Jugendbewegungen – und logischerweise auch die Filme, die sich mit ihnen befassten – noch mindestens ein halbes Jahrzehnt auf sich warten ließen, hatte Ôshima in seiner Heimat bereits das Verebben der ersten Protestwelle miterlebt. Das ästhetische Donnerwetter und der anarchische Irrwitz, die spätere Filme ähnlichen Zuschnitts kennzeichnen – etwa Lindsay Andersons IF..., Glauber Rochas TERRA EM TRANSE oder Godards LA CHINOISE –, ist seinem Ansatz fremd: Euphorie ist bei ihm in Bitternis umgeschlagen, Wut in Resignation. Niemand singt hier maoistische Popsongs, statt dessen: Elegien von Schostakowitsch und sozialistisches Kampfliedgut, das als Partyschlager missbraucht wird. Zum Mitsingen lädt nichts davon ein. Ein engstirniger, karger, freudloser Film, der Interesse an seinem Sujet nicht schürt, sondern mit Nachdruck voraussetzt.

DVD.
Erneut eine technisch tadellose Scheibe: starke Kontraste trotz gedeckter Farben, keinerlei Altersspuren; die leichte Verrauschtheit des Tons liegt völlig im Rahmen. Als Extras beinhaltet die DVD Trailer zum vorliegenden Film sowie zu zwei vorigen Reihentiteln, SING A SONG OF SEX und DIE NACHT DES MÖRDERS. Ôshima ist damit fürs Erste abgehakt; weiter geht die Edition 'Japanische Meisterregisseure' mit zwei Filmen von Yoshitaro Nomura.








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