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KAPITELWAHL

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF - DIE PILOTEN (Deutschland 2009)

von Björn Lahrmann

Original Titel. CHRISTOPH SCHLINGENSIEF - DIE PILOTEN
Laufzeit in Minuten. 95

Regie. CORDULA KABLITZ-POST
Drehbuch. CORDULA KABLITZ-POST
Musik. THE PLEASURES
Kamera. FREDERIC DOSS
Schnitt. LARS BILLERT
Darsteller. CHRISTOPH SCHLINGENSIEF . NICOLE KONSTANTINOU . JÜRGEN FLIEGE . CLAUDIA ROTH u.a.

Review Datum. 2010-01-21
Erscheinungsdatum. 2009-02-06
Vertrieb. SALZGEBER

Bildformat. 1.77:1 (anamorph)
Tonformat. DEUTSCH (DD 5.1)
Untertitel. keine
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Schon der Titel ist widersinnig. Piloten, zumindest solche, die für's Fernsehen gemacht werden, gibt's im richtigen Leben nicht im Plural; da wird halt einer gemacht, und wenn der nicht funzt, geht die Show in den Orkus. Weil es aber ein richtiges Leben im falschen, i.e. televisionären, nicht gibt, hat eine solche Projektbenennung, zumal im Falle von Christoph Schlingensief, wohl doch ihre paradoxe Richtigkeit. Paradox, wenigstens ein bisschen, ist auch das Konzept: Im Januar 2007, zehn Jahre nach TALK 2000, soll eine neue Anti-Talkshow gemacht werden, nach ähnlichen, also gar keinen Regeln, mit allerlei prominenten Gästen (u.a. Sido, Jürgen Fliege, Claudia Roth) und solchen, die nur so tun als ob. Wieder gibt es eine Drehbühne, deutlich voluminöser diesmal und nicht mehr im dust'ren Volksbühnenkeller, sondern in der Akademie der Künste, mit Festtagsbeleuchtung, Blick aufs Brandenburger Tor, Topfblumenapplikationen und sonstigem Pipapo.

Das Paradoxe daran nun: Für eine Ausstrahlung ist das alles nicht vorgesehen. Aus den vier abgedrehten Sendungen finden nur Bruchstücke ihren Weg in Cordula Kablitz-Posts nachträgliches Faking-of, das sich zum Großteil an Nebenschauplätzen und hinter den Kulissen abspielt. Wissen tut das zum Zeitpunkt des Drehs allerdings niemand, außer Schlingensief selbst, und auch der nur vielleicht. Große Mühen, die am Ende scheitern, sind ärgerlich, erklärt er und kündigt zugleich an: Wir machen hier was Ärgerliches. Los geht der Ärger folgendermaßen: Eine junge Band, die The Pleasures heißt, Glitzermakeup trägt und eine Art Glam-Punk-Bubblegum-Pop spielt, wird eingeladen und wieder ausgeladen und wieder eingeladen. Man echauffiert sich etwas kleinkariert über das organisatorische Chaos, über Schlingensiefs Primadonnenhaftigkeit, die dann im selben Atemzug als Rechtfertigung benutzt wird, doch da zu bleiben. Das verrückte Genie, halt! Derweil läuft Schlingensief durchs allgemeine Tohuwabohu und wirkt als einziger entspannt, konzentriert und frei von Allüren.

Ist der Ruf erst zementiert, gibt's ja nichts Schöneres, als ihn wieder zu ruinieren. Zum Beispiel so: Schlingensief, ein Jahr vor seiner Krebsdiagnose, sorgt sich um sein Augenlicht; man habe Sehnervknoten bei ihm entdeckt. Ein anwesender Augenarzt soll sich die Röntgenbilder einmal ansehen, er scherzt bemüht: Das sind die Schlingensief'schen Schlingen. Der braust plötzlich auf, maßregelt den Doktor im Tonfall integrativer Kindergärtner: Über sowas macht man keine Witze! Hinterher diskutieren Oskar Roehler und Rolf Zacher darüber, ob Christoph wirklich was mit den Augen hat oder ob das alles nur erfundener Blödsinn war; zu einem Ergebnis kommen sie nicht.
Die Reaktion des Arztes ist symptomatisch für DIE PILOTEN: Schlingensief bekommt es hier mit Gästen zu tun, die ihre Lektion aus TALK 2000 gelernt zu haben meinen und daher bereits in Habachtstellung die Bühne betreten, unwillens, den doppelbödigen Vexierspielen des Gastgebers auf den Leim zu gehen. Sie rechnen mit dem Unberechenbaren, stellen sich auf Verstellung ein, setzen sich innerhalb der Inszenierung in Szene. Jaja, scheinen sie zu sagen, wir haben begriffen: Im Fernsehen ist der Unterschied zwischen Dichtung und Wahrheit, so sehr man sich auch um Authentizität bemüht, immer schon aufgehoben.

Schlingensief bleibt nichts übrig, als der metareflexiven Schraube eine weitere Drehung zu verpassen, also: die Selbstinszenierung seiner Gäste offen zu legen. Das sieht, im besten und unglaublichsten Fall, so aus: Claudia Roth trifft ein; völlig aufgelöst erzählt sie hinter den Kulissen, dass ein Freund von ihr, der türkische Autor Hrant Dink, vor wenigen Stunden erschossen wurde. In der Sendung schlägt Schlingensief vor, einen Toast auf den Verstorbenen auszusprechen. Roth tut es, mit jenem antrainierten gestisch-mimischen Pathos, das vor der Kamera so gut kommt. Eine Pause entsteht, Schlingensief sagt: Das müssen wir noch mal machen, das sah nicht gut aus, den ersten Versuch können wir später ja schneiden. So entlarvt man Leerformeln öffentlicher Trauer.

Dass man als eingeweihter Zuschauer hinter das Licht, das Schlingensief auf mediale Falschheitsstrukturen wirft, trotzdem noch geführt wird: dafür sorgt der Dokumentarrahmen, der qua Konvention jene saubere Trennung von "bloßer" Show und entblößter Realität, die Schlingensief in seinen Fernsehprojekten regelmäßig aufhebt, auf einer höheren Ebene aufs Neue vornimmt – und genüsslich scheitert. Ausgiebig zeigt uns Kablitz-Post etwa, wie Schlingensief sich abseits der Sendung um seinen sterbenskranken Vater sorgt, wie er mit ihm telefoniert, wie er auf der Bühne einen fremden Schauspieler als Papa ausgibt und hinterher in der Garderobe einen Heulkrampf bekommt, weil die Inszenierung ihm näher gegangen ist als die Tatsachen. Egal, wie man einer solchen Szene begegnet – mit naiver Anteilnahme, boulevardesker Neugier, voyeuristischem Selbstekel oder rigoroser Skepsis –, man verhakt sich notwendig in ideologischen Vorgeprägen, die die Rezeption, bewusst oder unbewusst, steuern. Der Dokumentarfilm als letzte Bastion von Wahrhaftigkeit steckt in DIE PILOTEN mit dem notorischen Spieler Schlingensief unter einer Decke – Aufdecken zwecklos!

DVD.
Auf der Scheibe befindet sich der Film in erstklassiger Qualität. Sonst nix.








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