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KAPITELWAHL

TALK 2000 (Deutschland 1997)

von Björn Lahrmann

Original Titel. TALK 2000
Laufzeit in Minuten. 240

Regie. CORDULA KABLITZ-POST
Drehbuch. -
Musik. TITO SOHO
Kamera. CHRIS ROWE
Schnitt. ROBERT KUMMER
Darsteller. CHRISTOPH SCHLINGENSIEF . HARALD SCHMIDT . UDO KIER . INGRID STEEGER u.a.

Review Datum. 2010-01-21
Erscheinungsdatum. 2009-02-06
Vertrieb. SALZGEBER

Bildformat. 1.33:1
Tonformat. DEUTSCH (DD 2.0)
Untertitel. keine
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
"Bist du manchmal einsam?" – "Nie! Ich hab Fernsehen."
- Lilo Wanders & Rolf Eden

Anfang 2003 – sechs Jahre nach TALK 2000 – lief beim WDR die dreiteilige Sendereihe "Das Ganze eine Rederei": eine groß angelegte Metadiskussion, in der eine Runde illustrer deutscher Talkmaster über die Geschichte der deutschen Talkshow talkte. Christoph Schlingensief war auch dabei, es gab den berühmten Einspieler aus seiner Sendung, wo er Beate Uhse zur Sau macht, dazu im Hintergrund schaurige Musik, um dem Zuschauer zu suggerieren, dass ihm hier ein Blick in die Niederungen des Formats gewährt werde. Hinterher sitzen (ausgerechnet!) Beckmann und Kerner zu Gericht, schimpfen über schlechte Recherche und Unflat, und Erich Böhme, Gott hab ihn selig, wirft Schlingensief vor, einen Privatexorzismus betrieben zu haben. Womit er so falsch gar nicht liegt: Der Teufel, der in TALK 2000 ausgetrieben wird, ist die Talkshow selbst.

Es ist ja auch ein lächerlich utopisches Konzept: Fremde Menschen treffen in aller Öffentlich-Rechtlichkeit aufeinander und bereden freimütig Privates. Dabei sind sie stets höflich und lassen einander brav ausreden. Wenn sich mal einer auf den Schlips oder zu nahe getreten fühlt, zieht man mit erhobenen Händen die Frage zurück. Schlingensief macht mit all dem kurzen Prozess: Acht halbstündige Folgen lang trampelt er auf Schlipsen und Egos, Sitten und Manieren herum, aus Herzenslust und Dauerfrust gleichermaßen. Die Plattform im Keller der Berliner Volksbühne rotiert dazu wie ein Kinderkarussell, es wird gesungen, gehüpft und geschrien (zum Beispiel: "Tötet Helmut Kohl!"). Manchmal verlässt Schlingensief schmollend die Bühne, überlässt die Moderation einem Gast oder Zuschauer. Gläser werden zerschmissen, Zwischenrufer verprügelt: abgekartetes Spiel oder bitterer Ernst? Hin und wieder ruft der Pförtner durch und verkündet in osteuropäisch gebrochenem Deutsch sensationelle Einschaltquoten – fast so hoch wie die (von Schlingensief ebenfalls frei erfundene) Zahl der Arbeitslosen, denen die peinlich berührten Gäste ein Ständchen in die Kamera bringen sollen; Udo Kier singt: Take the money and run. Die Talkshow, eine deutsche Trostmaschine.

Ziel von Schlingensiefs Attacke (wenn man es denn so nennen kann) ist weniger die damals, Ende der 90er, auf dem Höhepunkt befindliche White-Trash-Nachmittagsentblößung à la Meiser und Kiesbauer, sondern die abendlich gediegenen Prominentenplaudereien der Ersten bis Dritten, deren scheinheilige Mixtur aus Betroffenheitshuberei und verklemmtem Paparazzitum hier genüsslich auf die Spitze getrieben wird: Zu Beginn jeder Sendung proklamiert Schlingensief die große Eierkuchen-Fernsehfamilie, nur, um den Gästen dann völlig ungeniert in den Wunden herumzubohren. Seine Fragen sind gerade deswegen so ungehörig, weil sie einem unverstellt voyeuristischen Interesse verpflichtet sind und nicht der Imagepflege des jeweiligen Stars: Moshammer wird sofort nach Papas Alkoholismus gelöchert und Ingrid Steeger, ob Dieter Wedel nun ein Schwein war oder nicht. Die einen nehmen's leicht und genießen die Narrenfreiheit, die sie in anderen Talkshows nicht haben (besonders souverän: Hilde Knef); die anderen reagieren pikiert und winden sich überfordert im Sessel. Das Publikum teilt sich in ähnliche Lager.

Als talk show host ist Schlingensief der sprichwörtliche Wirt, mit dem man die Rechnung nicht gemacht hat. Sein TALK 2000 ist anarchisch, infantil, aggressiv ehrlich und voller Herzblut. Er straft darin den öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrag, über dessen Umweg er überhaupt erst ins Nachtprogramm von RTL und SAT 1 gelangt war, Lügen und entblößt lustvoll jenes wahre Gesicht, das andere Sendungen gleichen Zuschnitts immer nur wahren wollen: ostentativ billige Triebbefriedigung, Brachialunterhaltung als Kunstform zwischen Eskalation und peinlicher Pause. Den Anspruch von Relevanz und Tagesaktualität, mit dem vielen Talkshows sich schmücken, torpediert Schlingensief, indem er jeder Folge ein gewichtiges Thema voranstellt, über das dann doch nie geredet wird. Die reflexhafte Frage nach Inszenierung schwingt jederzeit mit und greift doch komplett daneben: Natürlich ist alles Fernsehen, weil es Fernsehen ist, immer schon inszeniert und gerade in seiner Inszeniertheit emotional so wirksam. (Tatsächlich sind die wahrhaftigsten Momente hier die, die am offensichtlichsten gefälscht sind.) Insofern ist TALK 2000 Persiflage, Demontage und Perfektion der Talkshow in einem: Nichts ist real, und alles tut weh.

DVD.
Sieben der acht produzierten Folgen beinhaltet die Doppel-DVD, leider abzüglich der auf dem Gerichtsweg einkassierten Uhse-Episode, in der allem Vernehmen nach auch Helmut Berger einen wunderbar bedröhnten Auftritt hatte. Der Rest liegt in ordentlicher Fernsehqualität vor. Ein halbstündiges Featurette gewährt Einblicke hinter die Kulissen, wo Schlingensief in unmöglichen Aufzügen die Gäste empfängt und sich mehr als einmal wutentbrannt Wasser ins Gesicht spritzt.








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