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VICKY CRISTINA BARCELONA (Spanien/USA 2008)

von Björn Lahrmann

Original Titel. VICKY CRISTINA BARCELONA
Laufzeit in Minuten. 96

Regie. WOODY ALLEN
Drehbuch. WOODY ALLEN
Musik. diverse
Kamera. JAVIER AGUIRRESAROBE
Schnitt. ALISA LEPSELTER
Darsteller. REBECCA HALL . SCARLETT JOHANSSON . JAVIER BARDEM . PENÉLOPE CRUZ u.a.

Review Datum. 2008-10-17
Kinostart Deutschland. 2008-12-04

Vicky (Rebecca Hall) kann ihren Ohren kaum trauen: Gerade sitzt sie mit ihrer besten Freundin Cristina (Scarlett Johansson) weinschlürfenderweise in einer Bar in Barcelona, wo die beiden den frisch angebrochenen Sommer zu verbringen gedenken – da lädt sie prompt ein schlafzimmerblickbewaffneter und v.a. hemmungslos spanischer Maler namens Juan Antonio (Javier Bardem) völlig unverblümt zum Vögeln ein! Gut, ein Wochenende im malerischen Städtchen Oviedo sei damit schon noch verbunden, dort gebe es nämlich eine ungeheuer inspirierende Christus-Skulptur und allerlei sonstige katalanische Niedlichkeiten zu bewundern – aber dann, wie gesagt, ins Bett, am liebsten zu dritt. Empört lässt Vicky ihn abblitzen, diese Anmache sei ja wohl ein schlechter Scherz, seine ganze Person ein einziges südländisches Klischee, auf das sie ganz sicher nicht hereinfallen werde, zudem sei sie daheim in New York glücklich verlobt, also schönen Dank auch und auf Wiedersehen. Und was sagt Cristina? "Oh, I'd love to go to Oviedo!"

Wer gibt sich hier den größeren Illusionen hin: Die, die meint, keine zu haben, oder die, die sich spielerisch auf selbige einlässt? Die Wahrheit liegt, wenn überhaupt, irgendwo in der Knickfalz zwischen den Split Screens verborgen, mit denen Woody Allen die widersprüchlichen Protagonistinnen seines jüngsten Films einführt. Der seltsam verknappte Titel, wahlweise lesbar als Überschrift eines naiven Reisetagebuchs (VICKY und CRISTINA fahren nach BARCELONA) oder soziologische Versuchsanordnung (VICKY + CRISTINA : BARCELONA = ?), umreißt die Persönlichkeitspole des ungleichen Duos hinreichend vage: Hier die unbekümmerte Cristina, die vor lauter Impulsivität ihre diversen Projekte (seien es Männer, Sprachen oder künstlerische Betätigungen) ausschließlich unter Volldampf betreibt und dementsprechend nichts zur Reife bringt – dort die stockrationale Vicky, deren nüchternes Streben nach Stabilität und Sicherheit sogar ihre kindliche Liebe zu Spanien zu verdumpfen droht, u.a. in Form einer Magisterarbeit mit dem grässlich glaubwürdigen Titel "Die katalanische Identität". Das ist freilich pure Selbstironie, hätten doch Woodys eigene Englandfilme der letzten Jahre (MATCH POINT, CASSANDRAS TRAUM) problemlos ebenso ambitionsmeierisch heißen können, etwa: "Die angelsächsische Identität". VICKY CRISTINA BARCELONA dagegen perlt so luftig und elegant über die Leinwand, wie es vielleicht seit SWEET AND LOWDOWN keine Allen-Komödie mehr getan hat. Von einem süffisant protokollarischen Off-Erzähler begleitet, schickt er sein Personal durch mild gesäuerte Dialoggefechte, die seine altbekannten Liebesthesen (etwa: "Nur unerfüllte Liebe kann romantisch sein") mit unangestrengter Gelassenheit erneut durchdeklinieren und im Verlauf leider fühlbar träge und repetitiv werden. Dass man dem Film trotzdem gern die Stange hält, liegt zu einem Gutteil an den Darstellern; insbesondere Hall (gegen die Johansson deutlich verblasst) und Bardem formen aus ihren eigentlich recht scherenschnitthaften Rollen nachvollziehbare Charaktere, deren gemeinsame Szenen in Oviedo denn auch die frühen Highlights des Films darstellen.

Denn natürlich folgen die beiden Frauen dem Lockruf nach Oviedo, und natürlich verläuft dort nicht alles nach Plan: Cristina kommt beim Vorspiel das Essen hoch, Vicky nimmt kurzzeitig ihren Platz in der Urlaubssexualökonomie ein und kriegt beim Flamenco nicht bloß feuchte Augen, ihr teigiger Verlobter reist an und mit ihm ein nunmehr zum Gräuel gewordener grausolider Lebensentwurf zwischen Golf- und Bridge-Turnier, und irgendwann steigt auch noch Juan Antonios psychopathische Ex-Frau (Penélope Cruz) ins Spiel ein – denn das ist VICKY CRISTINA BARCELONA zu allererst: ein Liebesspiel, das ohne feste Regeln und offensichtliche Gewinner auskommen muss. Munter werden die Herz- und manchmal auch Kreuzkarten gemischt, ausgeteilt und wieder verzockt, bis sich so ziemlich jede erdenkliche Beziehungsanordnung als Niete, oder besser: trügerischer Trumpf erwiesen hat – was den Beteiligten jedoch nicht immer sofort zu Bewusstsein kommt: Vicky etwa beendet einmal einen unerwünschten Anruf ihres Verlobten, indem sie so tut, als breche die Leitung zusammen. "Terrible connection", seufzt sie, doch für den Freudschen Treppenwitz ist sie blind.

Dass der Film trotz des überall waltenden Unglücks alles andere als verbittert daherkommt, liegt an einer bewährten tragikomischen Doppelstrategie: Wenn es dir am Herzen liegt, verspotte es. Mit sanft ironischer Zunge legt Woody den ewigen Partnerreigen, vom Verführungsritual bis zur Trennung, in all seiner lächerlichen Durchschaubarkeit frei und kommt am Ende trotzdem zu jenem Schluss, den er schon einmal in SCHATTEN UND NEBEL hatte: "Liebe deine Illusionen: du brauchst sie." Nebenbei macht er sich über pauschaltouristisches Lemmingverhalten gleichermaßen lustig wie über vermeintlich aufrichtigeren Expat-Snobismus, taucht sein My-Fair-Lady-Spanien aber selber in derart honiggelbe Postkartenansichten von Gaudí-Gebäuden und Miró-Statuetten, dass man am liebsten gleich den nächsten Flug buchen möchte. Schließlich ist es ihm wie immer eine Lust, jene Künstler und Intellektuellen zu veralbern, für die Tiefempfinden und Hochstapeln zum alltäglichen Ausdauersport geworden sind – ohne dabei jedoch verhehlen zu können, dass er sich selbigen weitaus verwandter fühlt als der unromantischen No-Nonsense-Borniertheit von Vickys Zukünftigem. Besonders pointiert erscheint in diesem Zusammenhang eine Szene, in der Cristina erzählt, sie habe einen Film über die Undefinierbarkeit der Liebe gedreht – ganze 12 Minuten lang! Der Witz ist natürlich, dass Woody, der den gleichen Film dreht, mit 96 Minuten auch nicht viel großzügiger mit dem Thema umspringt.

Es ist die sorglose Akzeptanz solch fundamentaler Widersprüche, die VICKY CRISTINA BARCELONA wahrscheinlich den Ruch eines handelsüblichen Alterswerks einbringen wird. Doch auch wenn Woody hin und wieder tatsächlich dem Seniorentellerprinzip verfällt – die gleichen Zutaten wie immer, aber kleinere Portionen und milder gewürzt –, ist der Film unterm Strich doch eine zu leichtfüßige, vergnügliche Sommerkomödie geworden, als dass man ihm seine Defizite allzu übel nehmen könnte. "You'll have to seduce me", sagt Cristina einmal zu Juan Antonio. Woody ist selbiges an dieser Stelle längst gelungen.











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