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Ein Gespenst geht um in Cold Rock. Seit Jahren verschwinden in dem kleinen Bergarbeiterdorf Kinder; zu jeder Tageszeit, auf offener Straße, aus ihren Zimmern. Spurlos. Hinter vorgehaltener Hand munkelt man von einem großen Mann im Kapuzenmantel, gesehen hat ihn bislang niemand. Nur die seit ihrer Geburt stumme Jenny (Jodelle Ferland im Dakota Fanning-Modus) scheint mehr zu wissen, als sie zuzugeben scheint. Die zugezogene Krankenpflegerin Julia (Jessica Biel endlich mal als Schauspielerin, statt nur Sidekick Slash Eye-Candy) steht dem Mythos skeptisch gegenüber - solange, bis ihr Sohn David verschleppt wird und sie dem schwarzen Mann Auge in Auge gegenübersteht.
Ein Gespenst geht um; das Gespenst von MARTYRS. Das französische Newcomer-Talent Pascal Laugier tritt in große Fußstapfen; seine eigenen. Wie verhält man sich als Regisseur, wenn man (Horror-)Filmgeschichte geschrieben hat? Gestern No-Name, heute von den Medien zum Kubrick des französischen New Wave-Terrorkinos gekürt? Laugier kann es nur falsch machen: entweder er dreht gleich den nächsten Genre-Mangler hinterher, oder versucht sich an was gänzlich anderem, nur um sich hinterher anhören zu müssen, daß er nichts anderes kann, respektive MARTYRS ein One-Hit-Wonder war. Und vielleicht ist es das ja; ein derart kraftvolles Erlebnis verweist man nicht mal eben auf den zweiten Platz. Und so entscheidet Laugier sich bei seinem dritten Film (und zugleich US-Debüt) für den scheinbar lauesten Kompromiß: er dreht seinen größten Hit noch einmal. Diesmal für den Multiplex-Mob.
Damit keine Mißverständnisse aufkommen: selbstverständlich bleibt THE TALL MAN ein eigenständiger Film mit einzigartiger Atmosphäre; formale Aspekte und dramaturgischer Aufbau jedoch riechen unmißverständlich nach dem Parfüm der großen Schwester MARTYRS - minus der essentiellen Note Verwesung. THE TALL MAN ist zu allererst gediegenes, kompetent aufbereitetes Grusel-Entertainment, das erst auf dem letzten Meter das Playback ausschaltet und eine individuelle Stimme durchklingen läßt.
Zu spät?
Der breiten Masse ein Geschenk zu machen ist grundsätzlich nicht zu verteufeln; der wirtschaftliche Erfolg sei Laugier gegönnt, aber der Einwand ist berechtigt: bei einem Film, welcher ganz und gar auf einen Twist aufgebaut zu sein scheint, was bleibt beim zweiten Mal gucken? An die konsistente, rohe emotionale Wucht seines Vorgängers reicht THE TALL MAN zu keiner Sekunde; welchen Anreiz bietet der Film, ihn zu einem späteren Zeitpunkt nochmal sehen zu wollen um ihm weitere Facetten zu entlocken? Laugier sucht dem Dilemma entgegen zu wirken, indem er der Auflösung des Rätsels einen realen Bezug gibt. Das rüttelt auf, hebt ab von der Masse, hat ihn angreifbar gemacht. Über das Ende wurde viel geschrieben: von einer moralisierenden Botschaft war zu lesen, von prätentiöser Maßregelung. Damit tut man ihm Unrecht, tatsächlich bleibt der Zeigefinger unsichtbar. Was Laugier tut, ist, den schwarzen Mann aus dem Kleiderschrank zu befreien und als globales Gespenst zu interpretieren; die Tür einen Spalt breit zu öffnen in eine andere Welt; eine Welt, die nur in unseren Augenwinkeln existiert, dennoch präsent ist und deren parallele Strukturen unser aller Geschicke maßgeblich beeinflussen.
Pascal Laugier hat alles richtig gemacht: er kommentiert und kritisiert nicht, hat lediglich (EDEN LAKE nicht unähnlich) aktuelles Zeitgeschehen bemüht und dieses in ein spekulatives Genre-Konstrukt gebettet; das gibt dem Film Relevanz, macht den Schrecken authentisch und einen differenzierten Diskurs über seine Inhalte lohnenswert. Wer darin eine Anleitung für ein besseres Leben sieht, dann, bitteschön. Zur Beichte wird niemand gezwungen.
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