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RAW (Frankreich/Belgien 2016)

von André Becker

Original Titel. GRAVE
Laufzeit in Minuten. 98

Regie. JULIA DUCOURNAU
Drehbuch. JULIA DUCOURNAU
Musik. JIM WILLIAMS
Kamera. RUBEN IMPENS
Schnitt. JEAN-CHRISTOPHE BOUZY
Darsteller. GARANCE MARILLIER . ELLA RUMPF . RABAH NAIT OUFELLA . LAURENT LUCAS u.a.

Review Datum. 2017-11-22
Kinostart Deutschland. nicht bekannt

Beinahe hätte man das französische Genre-Kino endgültig abgeschrieben. Bahnbrechende Werke wie HIGH TENSION liegen mittlerweile Jahrzehnte zurück, zahlreiche der nachfolgenden heißersehnten Filme blieben fast durchgängig enttäuschend (genannt sei z.B. AMONG THE LIVING oder DIE MEUTE). Insofern ist RAW eine echte Wohltat. Und das nicht nur weil der Cannes-Beitrag so schön Erwartungen unterläuft und angenehm gegen den Strich gebürstet ist.

Im Zentrum der Geschichte steht Justine (Garance Marillier), eine junge Dame, die an einer französischen Universität ihr erstes Semester an der Fakultät für Veterinärmedizin beginnt. Inmitten demütigender Erstsemester-Rituale und exzessiver Partys entdeckt die glühende Vegetarierin eine gänzlich neue Seite an sich. Ein unbändiges Verlangen nach Fleisch, das in immer extremere Formen abgleitet, überkommt Justine und befällt sie in einer kaum noch zu kontrollierenden Weise. Als ihre ältere Schwester (Ella Rumpf), ebenfalls Studentin für Tiermedizin, von Justines Geheimnis erfährt, gerät die Situation vollends außer Kontrolle.

Die Regisseurin und Autorin Julia Ducournau legt ihre morbide Erzählung als waschechten Campus-Film an, der die üblichen Versatzstücke dieses eigentlich eher komödiantisch angelegten Subgenres auf teils überaus drastische Weise variiert und so mit ungewöhnlichen und unverbrauchten Motiven füllt. RAW erzählt von jugendlicher Sinnsuche in einer Zeit in der Selbstverwirklichung kein verheißungsvolles Versprechen mehr, sondern eine allgemein gültige Forderung an die eigene Identitätsarbeit darstellt. Be yourself als zwanghafte soziale Praxis, als ewiges Mantra einer fremdbestimmten Jugend. Justine wird dabei als zunächst ausgesprochen unsicheres junges Mädchen skizziert, das im Filmverlauf eine tiefschürfende und folgenreiche Wandlung durchmacht. Ducournau zeigt dies nachvollziehbar und mit einem feinen Gespür für den seelischen Ausnahmezustand, der von der Hauptfigur im wahrsten Sinne des Wortes Besitz ergreift und sie mit Haut und Haaren erfasst.

RAW ist deshalb in erster Linie ein Coming-of-Age-Film, der die Themen Körperlichkeit und feminine Identität auf eine wohltuend zupackende Weise vermittelt und in diesem Kontext bewusst auf eindeutige (positive wie negative) Zuschreibungen verzichtet. Erfrischend ist zudem wie das soziale Umfeld der Protagonisten angelegt ist. Die Universität wird als fast gefängnisgleicher Mikrokosmos gezeichnet, in dem gesellschaftliche und persönliche Strukturen zwangsläufig ausgehebelt werden (müssen). Im Grunde ist die Entwicklung von Justine eine fast unumgängliche Steigerung der vollkommenen Regellosigkeit des Campuslebens, der von ihr lediglich auf eine andere Ebene adaptiert wird. Das hinter allen Ausschweifungen nur eine endlose Leere wartet ist keine besonders innovative Schlussfolgerung, wird von Ducournau aber wirkungsvoll dramaturgisch abgebildet.

All diejenigen, die aufgrund der sehr medienwirksamen Skandal-Historie des Films einen Horror-Schocker erwarten, sind freilich auf dem Holzweg. Mittlerweile sollte sich herumgesprochen haben welche Schwerpunkte gesetzt werden. Nichtsdestotrotz hält RAW mehrere Szenen bereit, die ausgesprochen makaber ausgefallen sind. Spätestens an diesen Stellen wird ersichtlich, wieso das Arthouse-Publikum not amused war. Wer den Film allerdings auf diese wenigen Sequenzen reduziert, lässt vollkommen unbeachtet wie pointiert und lustvoll die Regisseurin hier adoleszente Lebenswelten dreht, wendet und letztlich mit den Mitteln des Body-Horrors vollkommen auf den Kopf stellt. Oder anders formuliert: Ein Film über Fleischeslust und Unifrust, den man sich nicht entgehen lassen sollte.

Der Film ist seit dem 27.10. auf DVD und Blu-ray von Universal Pictures erhältlich.











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