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"News Flash! Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe. Gesucht wird John Dillinger, Bankräuber, Mörder, Staatsfeind Nr. 1! Bei Sichtung wird gebeten, sofort die Behörden zu alarmieren! Und denken Sie dran: Er kann sich jederzeit in Ihrer Nähe befinden, sogar jetzt, in diesem Moment, in diesem Kino, in Ihrer Reihe! Schauen Sie nach rechts --- schauen Sie nach links ---"
…und alle Köpfe drehen sich, bis auf einen: John Dillinger (auch ohne Kajal ein charmanter Haudegen: Johnny Depp) guckt stur nach vorn. Er hatte dies zuvor bereits als sein Motto ausgegeben, "The only thing important is where somebody's going", und es ist zugleich das Motto von Michael Mann, der mit PUBLIC ENEMIES seine in COLLATERAL begonnene Auslotung einer neuen digitalen Ästhetik aufs Konsequenteste fortsetzt und damit den visuell kühnsten Film des Jahres gedreht hat.
Der Auftakt gibt die Grundkonstellation vor: Männer in ihren Lebensräumen, darum geht es hier. Dillinger und seine Mannen, schwarze Mäntel, schwarze Hüte, stehen vor den Mauern eines Hochsicherheitsgefängnisses, außerhalb, wohlgemerkt, um den Männer, die innerhalb eingesperrt sind, beim Ausbruch zu assistieren. Himmel, Mauer und Vorplatz bilden drei glatt voneinander getrennte Farbschichten, ein Andenken an die durchgestylte Geometrie früherer Mann-Filme, die bei längerem Hinsehen zum abstrakten Gemälde verschwimmt. Dann setzt sich alles in Bewegung, Schlösser brechen, Kugeln fliegen, Reifen quietschen. Dillinger kontrolliert souverän die Szenerie, wie auch später in Nachtclubs, beim Pferderennen und natürlich in den Banken, die er mit raumgreifender 360°-Geste ausraubt, als gehörte ihm die Knete längst. Männer, die immer neue Lebensräume für sich erschließen und wie sie das tun: auch darum geht es.
Weg von der strengen Architektur, rein ins Grüne: FBI-Mann Melvin Purvis (Christian Bale) hetzt Pretty Boy Floyd durch eine Apfelplantage, erlegt ihn mit einem eleganten Schuss zwischen den Setzlingsreihen und schaut ihm dann kühl beim Ausbluten zu. Das Selbstbild als geborener Jäger und Naturbursche wird Purvis noch zum Verhängnis werden in den Straßen von Chicago, den rechtwinkligen Bienenstöcken des Bureau. Anders als das suave Selbstvermarktungs-Genie Dillinger (public heißt immer auch: publicity) macht Purvis als auserkorener Posterboy von J. Edgar Hoover (schildkrötig: Billy Crudup) eine denkbar unbeholfene Figur. In seinen Einsatzbesprechungen posiert er gern vor riesigen Landkarten, als wolle er sich das gesamte Staatsterritorium zu eigen machen; statt dessen frisst sein Körper ein Loch hinein. Männer, die von Räumen, die sie nicht beherrschen, geschluckt werden: auch darum geht es.
Das Drehen auf HD-Video ermöglicht es Mann, diese Räume (und die Dinge in ihnen) auf eine Weise zum Leuchten zu bringen, die Frame für Frame den Atem verschlägt. Werden dem Zuschauer derzeit von einer anderen vermeintlichen Innovation, dem 3D-Film, einzelne Objekte in den Schoß geworfen, ist hier jeder Millimeter Leinwand in jeder Sekunde Film schärfer als die Realität. Die Folge ist eine lustvoll schwindelerregende Potenzierung von Bildinformationen, die keiner narrativen Verbindlichkeit mehr gehorchen und die Erzählung zunehmend unter sich begraben. Ein Beispiel: In einer Einstellung sehen wir Christian Bale am rechten vorderen Bildrand stehen; hinter ihm ein kleiner Flur, der im Mittelgrund auf eine Wand mit Fenster stößt. Selbiges wiederum gibt den Blick frei auf ein weiteres Fenster auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hinter dessen Scheibe eine Topfpflanze zu sehen ist - von der man meint, noch jedes einzelne Blattäderchen zählen zu können. Was Bale indes zu sagen hat, um den Plot voranzutreiben, geht im optischen Overkill beinah unter.
Mit PUBLIC ENEMIES entfernt sich Michael Mann weiter vom klassischen Erzählkino als je zuvor, und wer diesen Schritt schon in MIAMI VICE nicht mitgehen wollte, wird mit seinem Neuesten – diese Warnung ist bei aller Liebe nur fair – nicht glücklich werden. Die Handlung ist ein grobmaschiger Zitatenmix aus Räuberpistole und Melodram, der sich bei Genretropen bedient wie bei einem Lexikon, d.h. unabhängig von plottechnischen Erwägungen. Dillingers Romanze mit dem Garderobenmädchen Billie Frechette (Marion Cotillard) ist z.B. nicht viel mehr als eine Ansammlung von tiefen Blicken, neckischen One-Linern und Billie-Holiday-Songs: eine höchst selbstreflexive Hollywood-Fantasie, bei der es nicht überrascht, dass Dillinger schlussendlich an seinem eigenen Filmgeschmack krepieren muss. Wie schon in ALI ist es Mann am Auseinanderdividieren von historischer Person und Mythos nicht gelegen; die biografischen Bullet Points dienen vielmehr als Rohmaterial für hintereinander gestaffelte Sequenzen, die kaum mehr einen übergeordneten Spannungsbogen ausbilden.
Statt dessen ergibt der Film sich willenlos einem fetischistischen Taumel aus Texturen, Licht und Bewegung. Immer wieder tastet die Kamera das eingestanzte Tapetenmuster in Billies Wohnung ab, bleibt an Cordstreifen und Steinmarmorierungen hängen und beobachtet den roten Schatten der Sonnenbrille, der sich wie eine Kriegsbemalung auf Dillingers Gesicht legt. Überhaupt, Gesichter: sie geraten als primäre Faszinationsobjekte unentwegt in den Fokus, Depps fein gestutzter Schnurrbart, Cotillards leichter Wangenflaum oder Bales ambitionsgeile Hitzeflecken. Boshaft könnte man behaupten, die Menschen in diesem Film seien reine Staffage, auf einer Stufe mit den coolen Autos und eleganten Klamotten; richtiger ist es aber umgekehrt: alles lebt hier.
In PUBLIC ENEMIES werden die 30er (die filmischen, nicht die historischen) unmittelbar gegenwärtiges Ereignis, zum Greifen nah und zugleich hyperreal verfremdet: Die Abhörzentrale des FBI etwa, ein dunkler Raum voll winziger Glühbirnen, erinnert an das Elektrodenhirn des verrückten Computers HAL aus 2001, und während einer markerschütternden nächtlichen Schießerei in den Wäldern von Wisconsin – mit der Mann erneut mühelos demonstriert, wieso er seit HEAT als Meister dieser Disziplin gilt – spritzen die Kugeln aus den Läufen der Tommyguns wie flüssiges Gold. Auch filmgrammatisch sprengt PUBLIC ENEMIES jeden Rahmen, wechselt sekündlich von majestätischen Aufwärts-Schwenks zu krudem Handheld-Gerüttel und wilden Kamerapirouetten, bei denen ein beliebiger Stützpfeiler urplötzlich zur Drehachse umfunktioniert wird. Immer mal wieder bekommt die digitale Illusion einen kleinen Sprung, so dass man momentweise Schauspieler und Kostüme und Sets vor sich zu sehen meint, wie bei einem Making of. Doch gerade das Undisziplinierte, Maßlose, Unsaubere an Manns Methode ist es, das aus seinem High-Def-Delirium letztlich jene Essenz herausschält, die man sich vom Kino stets am meisten wünscht: the stuff that dreams are made of.
Diese Rezension bezieht sich auf die bei Pressevorführungen gezeigte Digitalprojektion. Im regulären Kinoprogramm wird eine 35mm-Kopie des Films zu sehen sein, was den optischen Neuheitsgrad zumindest einschränken dürfte.
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