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LOVE (Frankreich/Belgien 2015)

von Andreas Günther

Original Titel. LOVE
Laufzeit in Minuten. 135

Regie. GASPARD NOÈ
Drehbuch. GASPARD NOÈ
Musik. PASCAL MAYER
Kamera. BENOÎT DEBIE
Schnitt. DENIS BEDLOW . GASPAR NOÉ
Darsteller. AOMI MAYOCK . KARL GLUSMAN . KLARA KRISTIN . UGO FOX u.a.

Review Datum. 2015-12-23
Kinostart Deutschland. 2015-11-26

Die Härte des unwiederbringlichen Verlustes ist das Thema, das den französischen Filmemancher Gaspard Noé bekannt gemacht hat und dem er treu bleibt. IRREVERSIBEL (2002) entrollt rückwärts eine blutige Tragödie, beginnt mit Vincent Cassel als Rache nehmendem Geliebten, zeigt dann, wie dessen von Monica Belluci gespielte Freundin zuvor vergewaltigt und ermordet worden ist und endet mit dem allem vorausgehenden leidenschaftlichen Sex der beiden. Im neuen Film LOVE wacht Murphy (Karl Glusman) in einem ganz normalen Familienleben auf, über das zu lernen sein wird, wie sehr es für ihn das Gegenteil von Liebe ist. Doch ob es um Liebe geht, sei es ex negativo oder affirmativ, ist so gewiss nicht, wie Murphys beschwörende, intensive Stimme aus dem Off und die vielleicht autobiographisch bedingte Sympathie Noés glauben machen möchte.

Bevor solche Fragen auftauchen, hat der Film aber schon für sich eingenommen. Die stumme, von einer entspannenden und doch komplexen Musik unterlegte Eröffnungsszene besticht einfach als unzeremonielles, intensives Spiel mit Genitalien. Ein athletischer junger Mann hat die Augen geschlossen, während er mit der Hand eine schwarzhaarige Frau befriedigt. Halb über den Unterleib des Mannes gebogen, während ihr eigener Unterleib vor Erregung zuckt, reibt sie mit ihrer Hand seinen Penis, der sich immer stärker zu krümmen scheint. Exhibitionistisch oder pornographisch wirkt das keineswegs, sondern erfüllt von stiller, geradezu andächtiger Ekstase, die sich unbedingt ganz oben halten will. Bei so intensiver Inszenierung ist die 3D-Kinofassung kein Must. In LOVE erhalten die Körper ihre Natürlichkeit zurück, der sie im neueren französischen Film bisweilen verlustig gehen, so in den starren Sex-Choreographien von BLAU IST EINE WARME FARBE. Die Neurose des Regisseurs machte es nötig. Einerseits mussten sich die Actricen offenkundig das Schamhaar rasieren, andererseits der Bildrahmen dessen Fehlen verdecken. Bei Noé ist es eine ungezwungene Wucherung, ein Geschenk des Göttlichen. Die Verschmelzung hat etwas Reinigendes. Der junge Mann der ersten Szene sieht nach dem Sinnenrausch wie ein unschuldiges Baby aus.

Doch unerbittlich stellt sich das Erwachen nach dem Sündenfall ein. Wie er so im T-Shirt und mit Schnurrbart neben einer anderen Frau, einer zierlichen Blondine, im Bett liegt, ist zunächst gar nicht zu merken, dass es sich um denselben Mann handelt, Murphy. Es ist der Neujahrsmorgen, sein Kopf schmerzt von Alkohol und Drogen, aber er kümmert sich voller Zuneigung um seinen kleinen Sohn, während ihm die Frau verhasst ist, die es zur Welt gebracht hat und mit der er notgedrungen zusammen lebt, Omi (Klara Kristin). Wer ihn so früh auf seinem Handy angerufen hat, will Omi wissen. Murphy belügt sie, obwohl er das nicht will. Der Anruf kam von Nora, die Mutter von Electra (Aomi Mayock). Mit Electra, jener schwarzhaarigen Frau vom Anfang, war Murphy einmal sehr glücklich, nun ist Electra verschwunden, und wie ihre Mutter in der Nachricht, die sie hinterlässt, befürchtet, vielleicht für immer. Verstohlen, so dass seine Familie es nicht sieht, tastet Murphy nach dem Opium in seinem Versteck, das Electra ihm hinterlassen hat. Er nimmt es, um mit ihr spirituell vereint zu sein- und sich ihrer zu erinnern.

Lose und wie unfügsam, weil von schlechtem Gewisssen und unerträglichen Empfindungen belastet, tauchen Bruchstücke der Beziehung zwischen dem jungen amerikanischen Filmemacher und der angehenden Künstlerin auf. In einem Park haben sie sich bei einer Studentenparty kennen gelernt, landen danach im Bett und fühlen sich verliebt. Hin und wieder unternehmen sie auch einen Spaziergang oder treffen sich mit Electras Mutter. Doch meistens haben sie Sex und nehmen Drogen. So könnte es zweisam weitergehen, ließe sich die Lust durch die Liebe domestizieren. Aber die Lust ist eben naturwüchsig und unberechenbar. Electra treibt es mit einem Galeristen, Murphy hat Quickies. Mit Besuchen in Swinger-Clubs und Bordellen wollen sie wenigstens gemeinsam fremdgehen. Doch das Leben macht einen Strich durch die Hedonisten-Rechnung. Als Murphy mit Omi allein Sex hat, die bisher nur eine ergänzende Rolle im Dreier mit Electra hatte, platzt das Kondom, und Omi wird schwanger.

Nur Mist bauen könne er, findet Murphy über sich. Aber auch im Rückblick erklärt er zu seinem Fehltritt mit Omi: "Sie war heiß. Ich wollte da rein." Blond, klein gewachsen, etwas schüchtern, schmale Augen, kleine Brüste, ist Omi ganz das Gegenbild zur hochgewachsenen Frau mit den großen Brüsten. Aber bei Noé gibt es eben eine absolute, verwirrende Gleichrangigkeit der Anziehungskraft. Sie stürzt in Verwirrung und wird in Sexshops, Swinger-Clubs, etc. wie ein heidnischer Kult gefeiert. Die Lust sprengt die Liebe. Aber in der erkalteten Zweckgemeinschaft mit Omi unterliegt wiederum die Lust dem Leben, das mit dem geplatzten Kondom im Bildsinn hervorbricht. Zuvor im Film hat Omi auf sehr anrührende Weise dargelegt, warum Abtreibung für sie niemals in Frage käme

Warum dann Noé seinen Film nach der Liebe benannt hat, irritiert schon auf Zellebene, in den Einstellungen, die die mutmaßlich Liebenden einfassen. Wie sie einander ansehen, zeigt Noé nicht oder kaum. Ihre zärtlichen Gefühle bekunden sich auf ihren Gesichtern gerade nicht, wenn sie einander zugewandt, sondern im Gegenteil leicht voneinander abgewandt sind oder nebeneinander hergehen. Werden sie im Halbprofil einander gegenüber eingefangen, belügen sie sich meistens oder geraten in Streit. In solch einer Konstellation eröffnet Murphy, dass Omi von ihm schwanger ist, und Electra bespuckt ihn.

Weil Noé die Macht des Lebens und seiner Fortpflanzung vorbehaltlos anerkennt, ist der elegische Schlusseinfall so berührend, aber auch etwas konservativ. Murphy entwickelt eine Vision, in der der Anspruch des Lebens und die Liebe vereint wären. Es soll eben alles ordentlich sein wie in einem wohleingerichteten Paradies. Bedenklicher ist aber, dass Noé entgeht, dass die manifeste wechselseitge Liebe auch nach zwei Stunden Spielzeit nicht nur keine Bildsprache, sondern auch keinen Inhalt erhalten hat - obwohl sie doch etwa darin liegen könnte, dass einer durch den anderen sein menschliches Potenzial entfaltet. Murphys Trauer um eine velorene Liebe suggeriert bloß, dass es eine Liebe gäbe. So höhlt der Schluss einen Film aus, der sein Problem nicht erfasst, sondern nur einmal gestreift hat, als Murphy im Fensterrahmen ein Buch liest und Electra gegen ihn gelehnt schläft. Skulpturhaft steif hüten sie die Unerwecktheit der Liebe.











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