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So ein Exodus kann eine feine Sache sein: Man geht da fort, wo's einem nicht gefällt und steuert hoffnungsfroh in Richtung gelobtes Land. Das mit der Ankunft ist dann meist eine andere Geschichte, so auch im Fall der rund zwei Millionen Extraterrestrischen, die 1981 mit ihrem stadtgroßen Raumschiff über Johannesburg stranden. Die Verhältnisse an Bord sind keine schönen, die halb verhungerten Kreaturen vegetieren in Dreck und Dunkelheit dahin, wie Vieh. Nach einem Tier wird man die intelligente Spezies bald auch abfällig benennen: "Prawns", Krabben, weil ihr unappetitliches Äußeres an eine zweibeinige Kreuzung aus Krustentier und Heuschrecke erinnert. Man macht mit ihnen, was man auf Erden mit illegal aliens halt zu tun pflegt: pfercht sie in ein abgesperrtes Ghetto namens DISTRICT 9, wirft ein paar Konservenbüchsen über den Zaun und lässt dann tatenlos drei Dekaden ins Land streichen. Es entwickeln sich: Müllberge, Waffenhandel, intergalaktische Prostitution. Es entwickeln sich auch: Segregation, Rassenunruhen und Gewaltpotenzial. Als die Lage zunehmend außer Kontrolle gerät, beschließt die Regierung, die Fremden in ein abgeschiedenes Konzentrationslager zu deportieren.
Eine Apartheids-Aufarbeitung im Science-Fiction-Gewand, für kleines Geld inszeniert von dem gerade mal 29jährigen Südafrikaner Neill Blomkamp, protegiert von niemand geringerem als Peter Jackson – an einem viel dickeren Nagel kann man einen Hype kaum aufhängen. Tatsächlich hat diesseits von AVATAR kein Film in diesem Jahr eine ähnliche Erwartungswolke aufwirbeln lassen wie DISTRICT 9, und nach einem extrafeuchten Kassenorgasmus am US-Eröffnungswochenende wurde jetzt auch der deutsche Start hektisch vorverlegt. Je früher, desto besser, muss man sagen: denn wie glanzvoll sich der Film mit seiner überfetteten Reputation schlägt, zählt tatsächlich zu den beglückendsten Erlebnissen des Kinojahres. Gedreht an Originalschauplätzen in den Slums von Soweto, kreiert Blomkamp eine vollkommen überzeugende Parallelwelt, deren multiperspektivische Hermetik einen sofort in den Bann schlägt: Was als rückblickende Dokumentation nach Discovery-Channel-Manier beginnt, verpatchworkt sich bald mit z.T. authentischem Nachrichtenmaterial, Passanten-Interviews, Überwachungsvideos und handelsüblich dramatisierten Spielfilmsegmenten.
Das nonchalante Pfeifen auf sämtliche auch im postklassischen Kino noch vorhandene Vorstellungen von narrativer Einheit lässt DISTRICT 9 am ehesten wie die Simulation eines Media-Feeds wirken, so demokratisch wie kakophonisch – und längst nicht immer vertrauenswürdig: Denn ausgerechnet der Dokumentarteil, der anfangs noch so etwas wie objektive Erzählhoheit behauptet, erweist sich als verkapptes Werbevideo. Ersteller ist das private Sicherheitsunternehmen MNU, das den staatlichen Zwangsräumungsplan von District 9 durchführen soll. Die Operationsleitung wird dem hasenfüßigen Bürokraten Wikus van de Merwe (Starmaterial: Sharlto Copley) anvertraut, der fortan von Baracke zu Baracke stolpert und den Prawns unterschriftspflichtige Formulare unter den Rüssel knallt. Ist einer nicht willig, besorgt eine Eskorte blutgieriger Söldner den Rest. Als Wikus bei einer Hausdurchsuchung mit einer seltsamen schwarzen Flüssigkeit in Berührung kommt, beginnt seine DNA verrückt zu spielen: Angefangen bei seiner linken Hand, mutiert er Glied für Glied in einen Prawn.
Mit jedem Hype untrennbar verbunden ist seine reflexartige Enttäuschung. Die neuen Aloe-Taschentücher werden beim Reinrotzen glitschig, M&M's schmelzen in der Hand, und die verbesserte Hühnersuppenrezeptur zaubert keinen Knoten in den Löffel. Auch DISTRICT 9 kann ein Lied singen von unzufriedenem Erbsenzählergemaule, das sich im wesentlichen auf zwei Punkte konzentriert. Der erste bemängelt, für eine soziale Parabel gehe der Film allzu holzhammerhaft mit seiner Botschaft hausieren. Das ist schon deswegen Unsinn, weil es sich bei DISTRICT 9 mitnichten um eine Parabel handelt, sondern um eine Fabel, die ihren Apartheids-Subtext demnach völlig offen auf der Zunge tragen und geradlinig durchexerzieren darf, statt ihn symbolisch verklausulieren zu müssen. Mit John Lennon gesprochen: Prawn is the nigger of the world.
Unsinn ist die Beschwerde aber auch, weil der Film sein Thema durchaus mit Ambivalenz anzureichern versteht. Dafür sorgt eine der gebrochensten Heldenfiguren der letzten Zeit: Als wir Wikus kennen lernen, lässt er soeben eine außerirdische Brutkammer abfackeln und freut sich mit kindlicher Grausamkeit darüber, dass die platzenden Eier "wie Popcorn" klingen. Nach seiner Verkrabbung wird er selbst zur biotechnischen Jagdtrophäe und muss vor den Mengele-Schergen der MNU ins Ghetto fliehen, wo er bei einem gastfreundlichen Prawn unterkommt. Wer hier indes ein herzergreifendes Besserungsexempel erwartet, sollte sich lieber an schongegarte Arthouse-Erbauungsgrütze à la TSOTSI wenden: denn für alles, was Wikus jemals richtig machen wird, muss er erst zehnfach das Falsche tun. Altruismus ist für ihn bis zum Ende keine logische Option, sondern nur letztes Mittel, wenn sich aus einer Situation partout kein Eigenvorteil schlagen lässt. Das Postulat vollständiger Asozialität alles Menschlichen, das der Film schichtübergreifend von weißen Wirtschaftsbossen bis zu nigerianischen Voodoo-Kingpins vertritt, gehört wohl zu den bittersten Dystopien jüngerer Science Fiction.
Der zweite Einwand – nämlich, dass der Film mit der Zeit zum konventionellen Blockbuster regrediere – ist zumindest faktisch nicht ganz von der Hand zu weisen: Tatsächlich verebbt die Flut der Erzählperspektiven, verflacht der unberechenbar schäumende Plot zur Stromlinie, schießt der Actionpegel ungebremst in die Höhe. Wer selbiges im vorliegenden Fall jedoch allen Ernstes als Schmäh-Argument verwendet, ertränkt auch kleine Hunde, weil sie zu süß sind oder sagt Dinge wie: Wenn's am schönsten ist, soll man aufhören. Die Action in DISTRICT 9 ist ein unerhört mitreißendes Virtuosenbrett, meisterhaft über die epische Handlung hinweg orchestriert und am Ende in einem derartigen Dauerfurioso gipfelnd, dass einem die Synapsen wie Sektkorken aus der Hirnrinde knallen. Der oft gescholtene, hier aber maßvolle Einsatz von Wackelkamera und hochtouriger Schnittfrequenz erzeugt insbesondere bei Feuergefechten eine guerillahafte, hoch immersive Dynamik. Für die atemberaubenden CGI-Effekte – vom majestätisch am Himmel thronenden Mutterschiff bis zu den zahlreichen verspielten Alienwaffen – kann man sich den Zauberern von Image Engine nur zu Füßen werfen, und bevor nicht AVATAR all seine hehren Versprechen eingelöst hat, dürfen die Prawns als Krönung digitalen Creature Designs gelten. Obwohl sie rein gar nichts von der feuchtäugigen Messiaszärtlichkeit Spielberg’scher Aliens an sich haben, wirken sie phasenweise menschlicher als die Menschen und machen ihre Künstlichkeit in einem so verblüffenden Maße vergessen, dass man im Abspann nach den Darstellern sucht.
Nach all dem geschmacksfreien High-Concept-Käse, der Jahr für Jahr den Sommer auch im Kino zur Sauregurkenzeit macht, ist DISTRICT 9 ein lange schon fälliger Rachenputzer. Er bietet nicht nur ein fraglos innovatives, mit großer technischer wie narrativer Finesse umgesetztes Konzept, sondern beschert darüber hinaus noch jene flüchtige, schwer in Worte zu fassende Ahnung, live der Geburt eines neuen Talents beigewohnt zu haben. Plötzlich ertappt man sich beim Denken im Futur II: Wie großartig wird man diesen Film einst gefunden haben! Eine solche Form von vorgezogener Nostalgie, gemischt mit äußerst gegenwärtigem baffem Staunen, hat einen Namen: Instant-Klassiker. Insofern ist DISTRICT 9 einer der seltenen Fälle, in denen man getrost sagen kann: Do believe the hype!
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