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BURIED - LEBEND BEGRABEN (Spanien 2010)

von Michel Opdenplatz

Original Titel. BURIED
Laufzeit in Minuten. 93

Regie. RODRIGO CORTÉS
Drehbuch. CHRIS SPARLING
Musik. VICTOR REYES
Kamera. EDUARD GRAU
Schnitt. RODRIGO CORTÉS
Darsteller. RYAN REYNOLDS . ROBERT PATERSON . JOSÉ LUIS GARCIA-PÉREZ . STEPHEN TOBOLOWSKY u.a.

Review Datum. 2010-10-14
Kinostart Deutschland. 2010-11-04

Eine "physische Sinneserfahrung" verspricht der noch weitgehend unbekannte Regisseur Rodrigo Cortés, und er vergleicht - alles andere als bescheiden - sein Werk BURIED - LEBEND BEGRABEN mit den Streifen Alfred Hitchcocks. Wer glaubt, das wäre vermessen, der wird durch diesen Film eines Besseren belehrt. Ein klassischer Vorspann führt in stilisierter Abwärtsbewegung unter die Erde; immer tiefer geht es, die Musik nimmt dramatisch zu. Dann vollkommene Schwärze, die Leinwand zeigt absolut nichts. Die Akustik ist dasjenige Medium, das sich zuerst zu Wort meldet - oder besser: zu einem Keuchen, einem Husten, zu panischen Schreien. Erst dann flammt endlich ein Feuerzeug auf. Lastwagenfahrer Paul Conroy findet sich in einem Sarg wieder, metertief unter der Erde. Er wird ihn neunzig Minuten lang nicht verlassen; der Zuschauer ebensowenig.

Siebzehn Tage Drehzeit, sieben verschiedene Sargmodelle und ein einziger fantastischer Ryan Reynolds (X-MEN ORIGINS: WOLVERINE) fügen sich zu einem meisterhaften Thriller zusammen: Man riecht Pauls Schweiß, man spürt die Enge des Sarges, man teilt die klaustrophobische Erfahrung dieses Mannes, der zunächst mit nichts weiter ausgestattet scheint als mit einem Feuerzeug und einem Handy mit niedrigem Akku und schlechtem Empfang. Zwar erhält er über dieses Telefon tatsächlich eine Sprachverbindung zur Außenwelt, aber trotzdem bleibt er physisch wie psychsich vollkommen von ihr abgeschottet. Er hört nur die Stimmen der verschiedenen Personen, mit denen er telefoniert, und er muss ihnen vertrauen, wenn er überleben will. Gerade deshalb misstraut er ihnen in höchstem Maße, und der Zuschauer kann sich dieser Paranoia ebenfalls nicht erwehren: Ist der Mensch am anderen Ende wirklich der, für den er sich ausgibt? Sagt er die Wahrheit? Verstrickt er sich gerade nicht in Widersprüche, oder ist es doch Paul, der allmählich den Verstand verliet? Die Warteschleifen scheinen eine Ewigkeit anzudauern; die Kamera zoomt heraus, zeigt Paul seitlich in der Kiste, ein winziges, unbedeutendes Rechteck inmitten von allgegenwärtiger Schwärze.

Der Vergleich mit Quentin Tarantinos Paula-Schultz-Szene aus KILL BILL VOLUME 2, der wohl jedem Kinogänger jüngeren Datums bei dieser Handlung augenblicklich in den Sinn kommen dürfte, ist nach nur wenigen Sekunden vergessen, denn hier findet etwas völlig Anderes statt; bei allem schmerzenden Realismus nicht weniger poetisch, aber umso beklemmender und verzweifelter. Kein uralter Chinese hat Paul Conroy Kampfkunstfertigkeiten gelehrt, mit denen er Massivholz zerschmettern und sich durch fünf Meter aufgeschaufelten Sand hindurchwühlen kann. Dieser Lastwagenfahrer ist ein herkömmlicher Mensch in all seinen Facetten, er flucht, er lacht, er leidet, er heult, er schöpft Hoffnung und verzweifelt. Und das alles nimmt man Ryan Reynolds vielleicht trotz, vielleicht gerade wegen der exquisit eingesetzten Schummrigkeit des Settings bedingungslos ab. Eine einzelne Träne rollt im Flimmern der Feuerzeugflamme, Schweißtröpfchen glitzern auf den Bartstoppeln, man ist überzeugt, das Blut an seinem Hals langsam verkrusten zu sehen. Und dann kommt wieder eine völlig andere Szene, in der Paul reglos auf dem Rücken liegt und die Kamera nach oben fährt, ihn immer kleiner werden lässt: Der Sarg wird zum endlosen, holzgetäfelten Schacht, aus dem es kein Entrinnen gibt.

Die örtlichen Gegebenheiten nutzt der Film geschickt. Alles, was auf diesem begrenzten Raum filmtechnisch möglich ist, wird auch ausgereizt, jedoch niemals überdosiert. Ein 360-Grad-Schwenk der Kamera macht dem Zuschauer die lebensbedrohliche Enge erst richtig bewusst, und wenn man gerade glaubt, ja, davon überzeugt ist, jetzt könne die Atmosphäre nicht mehr erstickender werden, geschieht das nächste Unglück, und man ist schockiert, wie viel dramatischer eine winzige Holzkiste mit begrenztem Sauerstoffvorrat noch werden kann. Damit wiederum kontrastieren kunstvoll die fantastischen Farbspiele der Beleuchtung: Das vermeintlich beruhigende Blau des Handydisplays wird zum nervenzährenden Albtraum, wenn das Telefon wieder einmal in schrillen Tönen klingelt, wohingegen das aggressive Rot der später auftauchenden Taschenlampe gegen Ende zum einzigen Hoffnungsschimmer für Paul wird. Auch die ruhigen Szenen bieten willkommene Gegenpole, wenn Paul beispielsweise mit Menschen spricht, die ihm etwas bedeuten; und nicht weniger faszinierend ist der Umstand, dass der Film sogar Platz für schwarzhumorige Szenen hat, die einen unweigerlich auflachen lassen - obwohl sie alles andere als Erleichterungen darstellen.

Es ist alles ein Spiel, hofft man inständig, es ist bloß ein Trick, jemand erlaubt ein üblen Scherz mit Paul. Und mehr sollte über diesen Film im Voraus nicht gesagt werden. Es bleibt spannend bis zur letzten Sekunde. Aufgewühlt verlässt man den Kinosaal. Und es dreht sich einem gute drei Tage danach noch den Magen um, wenn das eigene Handy klingelt.











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