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BOYHOOD (USA 2014)

von Sebastian Moitzheim

Original Titel. BOYHOOD
Laufzeit in Minuten. 163

Regie. RICHARD LINKLATER
Drehbuch. RICHARD LINKLATER
Musik. nicht bekannt
Kamera. LEE DANIEL . SHANE F. KELLY
Schnitt. SANDRA ADAIR
Darsteller. ELLAR COLTRANE . LORELEI LINKLATER . PATRICIA ARQUETTE . ETHAN HAWKE u.a.

Review Datum. 2014-03-04
Kinostart Deutschland. nicht bekannt

Unabhängig davon, ob BOYHOOD ein gelungener Film geworden ist, haben Richard Linklater, seine Besetzung und auch das Studio Universal Respekt dafür verdient, sich auf das Risiko dieses Films einzulassen und dieses einzigartige Filmprojekt tatsächlich fertigzustellen: 12 Jahre ist es her, dass die erste Klappe zum Film fiel. Seitdem drehte Linklater jedes Jahr einen kleinen Teil seines Langzeitprojektes, das den jungen Mason beim Aufwachsen im ländlichen Texas begleitet, den letzten Teil im Oktober vergangenen Jahres. Vor 12 Jahren hatte Linklater gerade WAKING LIFE in die Kinos gebracht, arbeitete wahrscheinlich an SCHOOL OF ROCK und hatte erst einen seiner BEFORE-Filme abgedreht. Seine jungen Schauspieler, Hauptdarsteller Ellar Coltrane und Linklaters Tochter Lorelai, waren 6 und 7 Jahre alt, als sie sich auf dieses Projekt einließen. Kinder in diesem jungen Alter für so lange Zeit zu verpflichten ist, so Linklater auf der Berlinale-Pressekonferenz zum Film, technically illegal. Tochter Lorelai erklärte derweil, es gab Jahre, da bat sie ihren Vater, ihre Figur sterben zu lassen.

Es waren also eine Menge Geduld, immer wieder neue Überzeugungskraft (gegenüber seinen Darstellern, aber auch dem Studio, um das bescheidene jährliche Budget zu sichern) und sicher auch etwas Glück, die Linklater BOYHOOD letztlich tatsächlich fertigstellen ließen. Doch es sind Talent und die Summe über Jahre angesammelter Erfahrungen als Filmemacher, die den Film zu dem werden ließen, was er ist: Linklaters Meisterwerk.

Das Genie des Films liegt dabei weniger darin, was er zeigt, sondern darin, was er nicht zeigt: Linklater arbeitet nicht die typischen Meilensteine des Erwachsenwerdens - erster Kuss, erste Sex, erste Trennung, was auch immer - ab, sondern gibt, Jahr für Jahr, einen Einblick in den Alltag von Mason und seiner Familie, der mal dramatisch - die Alkoholexzesse seines Stiefvaters - , meist aber eher unspektakulär ist. Wir sehen Mason heranwachsen und spüren die kleinen und großen Veränderungen in seinem Leben und seiner Person gerade deshalb so stark, weil wir den Prozess der Veränderung selbst nicht immer miterleben (lediglich Masons High School-Abschluss nimmt, als einziger "Meilenstein" und logischer Schlusspunkt seiner "Boyhood", gegen Ende des Films Screentime ein). Dabei ist das Gezeigte immer gerade ausreichend verdichtet und zugespitzt, gerade deutlich genug geschrieben und nicht improvisiert, um bei aller Alltäglichkeit nie belanglos zu werden. Die Geschichte von Mason und seiner Familie ist doch eine spezifische, die allerdings universelle Resonanz hat.

Quasi im Vorbeigehen erzählt Linklater neben der von Mason noch eine Reihe anderer Geschichten, darunter, in konzentrierter Form, eine, die der Regisseur, wenn man so will, schon seine ganze Karriere lang erzählt: Seit SLACKER ist Linklater so etwas wie der Chronist der Generation X und in Ethan Hawkes Figur, Masons Vater, ist dieses Thema auch in BOYHOOD vertreten. Gibt es einen Schauspieler, der so untrennbar mit den 90er-Jahren verbunden ist wie der junge Ethan Hawke, der die Dekade besser verkörpert, in der das Slacker-Kino über ziellose Gen-Xer von Linklater und seinen Epigonen auf dem Höhepunkt war? In BOYHOOD ist er plötzlich wieder da, der junge Ethan Hawke, nur unwesentlich älter als der Ethan Hawke aus BEFORE SUNRISE und REALITY BITES, ein Relikt aus einer vergangenen Zeit, und wir sehen ihn noch einmal, im Zeitraffer, älter werden - und mit ihm seine Figur die Entwicklung vom nichtsnutzigen, aber idealistischen Musiker zum verantwortungsbewussten Familienvater durchmachen. Und dann ist da noch Patricia Arquette, die als Masons Mutter wohl die tragischste, aber auch die stärkste Figur des Films ist, die sich, nach der endgültigen Trennung von Masons Vater, einer Parade von alkoholkranken, teils gewalttätigen Männern aussetzt und deren Trennung von ihrem Ex-Mann doch letztlich nur schlechtes Timing war, wird Mason Sr. doch letztlich zu genau dem Mann, den sie immer wollte. Ihr gehört auch der emotionalste, traurigste Moment des Films, wenn mit Mason das letzte ihrer Kinder das Haus verlässt und sie der verlorenen Zeit nachweint, wenn sie im Angesicht dieses Meilensteins ihres Sohnes erkennt, dass ihre eigenen Meilensteine - Hochzeiten, Kinder, Trennungen - vielleicht schon hinter ihr liegen.

In diesem wie in vielen anderen Momenten offenbart sich eine weitere Stärke des Films, die ebenfalls mit einem Verzicht Linklaters einhergeht: Konsequent verweigert sich der Regisseur, die einzelnen Momente und Episoden des Films (zumindest explizit) zu kontextualisieren. Es gibt keinen Richard-Dreyfus-Voice-Over, der die emotionalen Tiefpunkte rückblickend als notwendige Hürden, die es zu überwinden gilt, einordnet (obwohl sie wahrscheinlich genau das sind), keine Montage, die noch einmal im Schnelldurchlauf Masons Entwicklung zeigt und ihn als Kind und jungen Erwachsenen nebeneinander stellt. Obwohl BOYHOOD schon allein durch seine Produktionsgeschichte ein Film ist, der zurückblickt, der auch mit einer gewissen Nostalgie verbunden ist, behalten so doch alle Episoden ihre emotionale Direktheit - egal, in welchem Jahr in Masons Leben wir uns gerade befinden, was wir sehen passiert nicht 2002 oder 2007 oder 2014, sondern genau jetzt.

Entsprechend verzichtet Linklater auch auf Zwischentitel oder ähnliche konkrete Hinweise, die uns mitteilen, dass wieder einmal ein Jahr vergangen ist. Nahtlos gehen die einzelnen Abschnitte in Masons Leben ineinander über, oft brauchen wir einen Moment, um zu realisieren, dass und wie viel Zeit zwischen ihnen verstrich. Welches Jahr wir gerade schreiben, lässt sich am ehesten an kulturellen Markern festmachen: den Popsongs, die im Radio, später auf iPods oder, gelegentlich, auf dem Soundtrack zu hören sind, die iMacs, die zu MacBooks und später zu iPhones werden, das jeweilige Harry Potter-Buch, das Mason und seine Schwester gerade lesen. So ist BOYHOOD ganz nebenbei auch eine kleine (Pop-)Kultur- und Technikgeschichte, die, ohne jemals gezielt darauf aufmerksam zu machen, aufzeigt, wie sich die popkulturellen Interessen der Protagonisten und die Art des Konsums verschieben und wie neue Technologien ihr Leben und ihre Kommunikation miteinander verändern.

Wer schon einmal ein Review von mir gelesen hat, weiß vielleicht, dass ich Filmen mit Überlänge skeptisch gegenüberstehe und ungefähr 80% aller aktuellen Filme für zu lang halte. Mit dieser Information im Hinterkopf sei gesagt: BOYHOOD ist mit 163 Minuten Laufzeit keine Sekunde zu lang - wenn überhaupt, wünscht sich ein Teil von mir, dass Linklater einfach für den Rest seines Lebens weiter diesen Film dreht und in regelmäßigen Abständen ein neues Kapitel ins Kino bringt. BOYHOOD hat nicht im eigentlichen Sinne eine Story, aber doch unendlich viel zu erzählen, hat keine explizite Botschaft, bringt mit seiner Gleichbehandlung des Dramatischen und des Banalen und seiner konsequenten Fokussierung auf die (jeweilige) Gegenwart die im Grunde ja nicht dumme Live in the moment-Philosophie aber besser zum Ausdruck, als es die WALTER MITTYs dieser Welt jemals könnten. Es ist ein Epos des Alltäglichen, ein so großer wie intimer, ein oft tieftrauriger, aber auch sehr komischer und letztlich eben lebensbejahender Film.









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