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DAS ERSTAUNLICHE LEBEN DES WALTER MITTY (USA 2013)

von Sebastian Moitzheim

Original Titel. THE SECRET LIFE OF WALTER MITTY
Laufzeit in Minuten. 114

Regie. BEN STILLER
Drehbuch. STEVE CONRAD
Musik. THEODORE SHAPIRO
Kamera. STUART DRYBURGH
Schnitt. GREG HAYDEN
Darsteller. BEN STILLER . KRISTEN WIIG . ADAM SCOTT . SHIRLEY MACLAINE u.a.

Review Datum. 2013-12-31
Kinostart Deutschland. 2014-01-01

Ben Stillers DAS ERSTAUNLICHE LEBEN DES WALTER MITTY eröffnet mit einer meiner liebsten Szenen des ablaufenden Jahres: Walter Mitty (Stiller) sitzt alleine an seinem penibel aufgeräumten Schreibtisch und scrollt durch das eHarmony-Profil seiner Kollegin Cheryl Melhoff (Kristen Wiig). Ihre Interessen, ihre Angaben unter der Überschrift "Been there, done that" zeichnen das Bild einer humorvollen, schlagfertigen, klugen, vielleicht etwas linkischen Person. Wir haben das Gefühl, sie zu kennen, bevor wir sie überhaupt gesehen haben. Walter fährt mit dem Cursor über den "zuzwinkern"-Button - und zögert. Er steht auf, läuft nervös im Raum auf und ab, fasst sich endlich ein Herz und klickt auf den Button.

Klingt das wie eine Szene frei von echten Emotionen und Zwischenmenschlichkeit? Für mich fühlte sie sich sicher nicht so an. Im Gegenteil: Nicht nur war es erfrischend, dass Stiller anscheinend verstanden hatte, wie dieselben Emotionen, Ängste und Unsicherheiten, die sogenannte "Real Life" Kommunikation mit sich bringt, auch in digitaler Kommunikation enthalten sein können; nein, auch die effiziente, präzise Charakterisierung der beiden Hauptfiguren machte Mut. Umso enttäuschender war es dann zu erleben, wie DAS ERSTAUNLICHE LEBEN DES WALTER MITTY sich schnell zum grumpy old man-Film entwickelte, der sich mit platter Glückskeks-Poesie schmückt, aber letztlich nicht mehr zu sagen hat als "Geht mal wieder raus", der Internet und Digitalisierung als Antithese zu (Zwischen-)Menschlichkeit und überhaupt das Ende von allem, was wahr und schön ist, inszeniert und der seine im Setup durchaus charmante zentrale Liebesgeschichte letztlich doch darauf herunterbricht, dass eine weitere lebhafte, aber eindimensionale Frauenfigur einem weiteren selbstmitleidigen, passiven Mann zu einer Entwicklung zum selbstbestimmten, lebensfrohen Helden verhelfen muss.

Stillers MITTY ist, nach dem 1947er Danny Kaye-Vehikel, die zweite Verfilmung von James Thurbers berühmter Kurzgeschichte THE SECRET LIFE OF WALTER MITTY. Die ist nur unwesentlich länger als diese Kritik, weshalb eine spielfilmlange Adaption zwangsweise eine sehr freie Interpretation sein muss. In der - sehr lesenswerten - Kurzgeschichte ist Walter Mitty ein frustrierter, unglücklich verheirateter Mann, der seine Frau zum Einkaufen begleitet und sich immer wieder in Tagträume flüchtet. Viel mehr passiert nicht - der Einfluss von Thurbers Story liegt eher darin, Walter Mitty als Figurentypus zu etablieren, der im englischsprachigen Raum schon zur Redewendung geworden ist ("He's a regular Walter Mitty").

Stiller, ausgehend von einem Drehbuch von Steve Conrad - Autor von Will Smiths neoliberaler Masturbationsfantasie DAS STREBEN NACH GLÜCK - , nimmt Thurbers Figur als Ausgangspunkt für eine originäre (nicht: originelle) Geschichte. Sein Walter Mitty arbeitet im Fotoarchiv des Life Magazines, zuständig für die Entwicklung der Negative, die dieser Tage (die letzte Printausgabe des Life Magazines ist gerade in Arbeit) eigentlich nur noch von Star-Fotograf Sean O'Connell (Sean Penn) kommen, der aus Plot-Gründen als letzter seiner Art noch auf Film schießt (und kein Handy hat). O'Connell ist auch Walters einziger Freund oder zumindest der einzige, mit dem Walter freundlichen Kontakt pflegt - davon abgesehen führt er eine einsame, langweilige Existenz, aus der er sich immer wieder in Tagträume flüchtet, in denen er in erster Linie auf verschiedene Arten die erwähnte Cheryl beeindruckt.

Walter hat gerade O'Connells letzte Lieferung von Negativen erhalten, bestehend aus einer Reihe von Fotos, deren Motive nicht zu erkennen sind und die O'Connell mutmaßlich aus Versehen aufgenommen hat, sowie einem, das O'Connell in seiner Nachricht an Walter als "the quintessence of life [und/oder Life]" bezeichnet. Dummerweise fehlt natürlich gerade dieses Negativ, das Walters fieser neuer Chef (Adam Scott) ungesehen als Covermotiv der letzten Ausgabe auswählt, sodass es nun an Walter ist, das Negativ aufzutreiben. Walter recherchiert eine Weile wo O'Connell zuletzt gesehen wurde (Grönland) und steigt dann in ein Flugzeug.

Die Geschichte des Films ist hier zu Ende. Walters Entwicklung ist abgeschlossen, er hat sein trostloses Leben hinter sich gelassen, seine Traumsequenzen hören entsprechend weitestgehend auf und Cheryl mochte ihn sowieso schon. Es gibt nichts mehr zu erzählen (das fehlende Negativ war von vornherein nur ein MacGuffin, damit Walter einen akuten Grund hat, aus seiner Routine auszubrechen). Doch irgendwie muss Stiller halt noch 1,5 Stunden rumkriegen, weswegen er die restliche Laufzeit damit füllt, dass Walter vor der majestätischen Kulisse Grönlands und Islands (durchaus ansprechend gefilmt, wenn auch nicht wirklich unterscheidbar von den Tourismus-Werbespots, die im Kino manchmal vor dem Film laufen), zu Arcade Fire und anderen Indie-Bands, die alle wie Arcade Fire klingen, seinen Traum, die weite Welt zu sehen, verwirklicht und dem Zuschauer gewaltsam Poesie einprügelt (bzw. das, was Fans von DIE FABELHAFTE WELT DER AMÉLIE dafür halten; die Life/life-Metapher ist in diesem Film vergleichsweise subtil). Es gibt keine Konflikte, es gibt keine Probleme, die nicht binnen Sekunden gelöst werden, es gibt keinen Grund, sich das alles im Kino anzugucken, anstatt sich, zum Beispiel, eine halbe Stunde durch das Fotoarchiv von Life Online zu klicken.

(Okay, ein Bisschen unfair bin ich hier vielleicht. Eine relevante Szene gibt es doch noch, eine letzte Traumsequenz und neben der erwähnten Eröffnungsszene der beste Moment des Films. Sie soll hier vor allem deshalb erwähnt werden, weil sie illustriert, was Stiller bei den meisten anderen Traumsequenzen falsch macht: In einer heruntergekommenen Karaoke-Bar in Grönland trifft Walter einen betrunkenen Helikopter-Piloten, der Walter anbietet, ihn auf dem Flug zu dem Schiff, auf dem O'Connell sich - angeblich - befindet, zu begleiten. Walter, verunsichert durch den Zustand des Piloten sowie das stürmische Wetter, zögert. Auf der Bühne erscheint Cheryl, Gitarre in der Hand, und singt David Bowies Space Oddity was Walter dazu motiviert, im letzten Moment doch noch in den Helikopter zu steigen. Es gibt auch an dieser Szene einiges auszusetzen - Cheryl muss auch hier als, im Grunde ihre einzige Funktion im Film, Cheerleader für Walter herhalten und plakativ ist das Ganze sowieso - , aber immerhin ist es eine Tagtraumsequenz, die tatsächlich aus der Figur Walter Mitty bzw. Ereignissen aus seinem Leben gespeist wird - Space Oddity ist ein wiederkehrendes Thema des Films, zunächst in Verbindung mit Hänseleien gegen Walter seitens seines neuen Chefs, später, nachdem Cheryl ihm (und dem nach Stillers Meinung offenbar strunzdummen Publikum) erklärt hat, worum es in dem Song geht, in Verbindung mit Cheryl und Walters "Reise ins Unbekannte". Bis dahin waren alle Tagtraumsequenzen generische Blockbuster-Parodien, bei denen in keiner Weise ersichtlich war, warum Walter sich gerade dieses Szenario herbeiträumte.)

Natürlich kehrt Walter irgendwann, Negativ in der Hand, ins Life-Büro zurück. Natürlich schaut er sich das Negativ nicht an, denn Walter hat den Himalaya bestiegen und gegen Haie gekämpft - niemand muss ihm noch erklären, was "the quintessence of life [und/oder Life]" ist. Dem, wie erwähnt, laut Stiller nicht ganz so hellen Zuschauer muss man dies allerdings sehr wohl erklären, weswegen wir das Bild letztlich doch noch zu sehen bekommen. Ohne jetzt verraten zu wollen, was auf dem letzten Life-Cover zu sehen ist (hohe Preise würde ich für korrektes Erraten aber auch nicht ausschreiben): Wenn wir und Walter es tatsächlich zu sehen bekommen, legt das in aller Deutlichkeit die Verlogenheit dieses Films offen: Derselbe Film, der seinen Protagonisten eben erst ohne Sauerstoff auf den Himalaya steigen ließ und dies in direkten Kontrast zu einem Leben in Isolation und Einsamkeit setzte, behauptet zum Schluss noch einmal, das einfache, unscheinbare Leben zu feiern.

DAS ERSTAUNLICHE LEBEN DES WALTER MITTY ist die Verfilmung eines Schulmäppchens, das eine 13jährige mit pseudo-poetischen Songlyrics vollgekritzelt hat. Es ist die Sorte Film, die der "alte" Ben Stiller, der Stiller, der die BEN STILLER SHOW und THE CABLE GUY und ZOOLANDER gedreht hat, gehasst hätte (im Grunde ist es die Sorte Film, die Stiller mit "Simple Jack" in TROPIC THUNDER parodierte): Aufgeblasen, prätentiös, selbstverliebt und, im intellektuellen wie emotionalen Sinne, letztlich völlig leer. Schlecht wäre WALTER MITTY auch, wenn ein anderer Regisseur im Abspann stünde. Als Ben Stiller-Film, mit dessen bisherigen Regiearbeiten im Hinterkopf, ist der Film geradezu tragisch.











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