AFTER DARK Film TALK Facebook Twitter

das manifest¬  kontakt¬  impressum¬  verweise¬  übersicht¬ 
[   MEINUNGSMACHER  |   GEDRUCKTES IST TOT  |   KAPITELWAHL  |   UNENDLICHE TIEFEN
   MENSCHEN  |   GESPRÄCHE  |   FEGEFEUER DER EITELKEITEN  |   MIT BESTEN EMPFEHLUNGEN   ]
UNENDLICHE TIEFEN

Special.
Rainer Werner Fassbinder - Zwei Bücher
von Andreas Günther

Rainer Werner Fassbinder - Zwei Bücher

Fassbindersche Zeiten

Quälerisches Kommunenleben wie im "Dschungelcamp" macht Quote, Selbst-darstellung gilt vielen als Lebenselixier, virtuelle Welten sind Alltag und Prostitution inzwischen ein anerkanntes Gewerbe: Die zentralen Themen und private Grausamkeit des Filmregisseurs Rainer Werner Fassbinder erweisen sich 30 Jahre nach seinem Tod als verblüffend aktuell. Zumindest wenn man die neuen Bücher von Jürgen Trimborn und Thomas Elsaesser über "RWF" ein wenig gegen den Strich liest.

Ist Rainer Werner Fassbinder, der erfolgreichste Regisseur des so genannten Neuen deutschen Films, noch Teil unserer Film- und Medienkultur - oder schon vergessen? Thomas Elsaesser und Jürgen Trimborn, der eine Verfasser der ebenso opulenten wie gründlichen Studie Rainer Werner Fassbinder, der andere Autor der Biographie Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben, äußern sich gleichermaßen skeptisch. Der renommierte Filmwissenschaftler Elsaesser befürchtet, Fassbinder könnte als eine Art "Dracula-Figur" auf das "Emblem eines inzwischen nicht mehr existierenden Kinos" reduziert werden. Wiedervereinigung und neues Europa, die der 1982 an einer Überdosis Drogen Verstorbene nicht mehr erleben konnte, würden seine ätzende Kritik an der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft weitgehend veraltet erscheinen lassen. Ein "allgemeine(s) Desinteresse an Fassbinders Werk in seinem Heimatland" konstatiert betroffen Jürgen Trimborn. Auch er sieht die Verdienste des Wunderkindes mit Schnauzer eher in einer filmischen Analyse bundesrepublikanischer Vergangenheit. Dass Fassbinder globale Medienrealitäten und -mentalitäten vorausgeahnt hat, scheinen die Autoren nicht zu bemerken. Sie müssten dazu ihren eigenen Befunden besser vertrauen.

Fassbinders Verhältnis zu Film und anderen Medien wurde dadurch geprägt, dass er in erster Linie Regisseur der Gefühle seiner Mitmenschen war. Wahrscheinlich überwand der 1945 Geborene so seine Ohnmachtserfahrungen der frühen Jahre, in denen er Trimborn zufolge ein ungeliebtes, vernachlässigtes Kind war. Seine ersten "Opfer" waren die, die er mit Anfang zwanzig in einer Kommune um sich scharte, um seinen Traum vom "größten Filmregisseur aller Zeiten" zu verwirklichen. Aus ihnen rekrutierte er viele seiner Darsteller und Mitarbeiter, einschließlich seiner Mutter. Systematisch demütigte er sie und hetzte sie gegeneinander auf, überzog sie mit Psychoterror und ließ sie um Liebe und Rollen betteln.

Trimborn weiß furchtbare Geschichten darüber zu erzählen. Elsaesser interpretiert mit poststrukturalistischem Theoriebesteck die "Ersatzfamilie" als "affektiven Apparat", der Fassbinders enormes Oeuvre von - folgt man der Klassifikation von Elsaesser - mehr als 40 Gangsterfilmen, politischen Filmen und vor allem Melodramen für Kino und Fernsehen plus zahlreiche Theaterproduktionen erst möglich gemacht hat. Den wirklich kritischen Punkt, dass der Erfolg auf die theatralen Manipulationskünste eines jungen Mannes zurückging, dem der Unterschied zwischen Schauspiel und Leben, Fiktion und Realität offenkundig abhanden bekommen war, berühren die Autoren indes nicht.

Denn was heute für das Privatfernsehen und seine Zuschauer die Teilnehmer von "Dschungelcamp" oder "DSDS" sind, waren für Fassbinder seine Groupies in den von ihm gedrehten Filmen. Die Kandidaten und C-Prominente des Reality-TV sind finanziell vom Sender abhängig und emotional auf die Gunst des Publikums angewiesen; Fassbinders Anhänger waren ihrem Guru darüber hinaus auch in sexueller Hinsicht hörig. Fassbinder zog eine perfide Form des Reality-TV durch, der nur die Kameras fehlten. Würde er heute noch leben, wäre es sicher nicht bei der autobiographischen Selbstenthüllung seiner Tyrannei in dem Film-im-Film WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE (1971) geblieben.

Der clevere Medienunternehmer, der Fassbinder auch war, würde kaum zögern, für einen guten Preis die Dramen seiner "kreative(n) Kommune" (Trimborn) ins Fernsehen zu bringen. Unschwer kann man ihn sich als einzigen Juror einer Casting-Show vorstellen, der über die Idealbesetzung seines neuen Films entscheidet: unverfrorener als Donald Trump beim Abkanzeln seiner "Assistenten" und rhetorisch um Längen diabolischer als Bohlen. Er hätte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, seine Sucht nach Ruhm und die ihm oft genug bescheinigte Lust an der Provokation Abend für Abend vor einem Millionenpublikum auszukosten. Zu sehen gegeben hätte es nicht echte Gefühle, sondern so planmäßig erzeugte, wie man sie heute von Doku-Soaps gewöhnt ist.

Dem Zwang, Empfindungen zu inszenieren, unterliegen auch Fassbinders Figuren. Nach der Beobachtung von Elsaesser klappt die Beziehung zwischen der Putzfrau Emmi (Brigitte Mira) und dem nordafrikanischen Arbeiter Ali (El Hedi Ben Salem) in ANGST ESSEN SEELE AUF (1973/74) dann am besten, wenn die beiden ihre Zuneigung füreinander für den Blick eines Dritten darstellen können. Das kann, wie in diesem ersten Meisterwerk Fassbinders, zum Beispiel eine neugierige Nachbarin sein. Manchmal aber suggeriert die Kamera diesen Blick lediglich, egal, ob sie von Michael Ballhaus oder anderen geführt wurde. Sehr überzeugend identifiziert Elsaesser die Essenz solcher Arrangements als Exhibitionismus. Er erklärt das Esse est percipi, Sein ist Wahrgenommenwerden, zur ästhetischen Grundformel des Werks. Die emotional Ausgebeuteten und Missbrauchten in HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN (1971/72), MARTHA (1973/74), FONTANE EFFI BRIEST (1974), FAUSTRECHT DER FREIHEIT (1974/75), MUTTER KÜSTER'S FAHRT ZUM HIMMEL (1975), BOLWIESER (1976/77), IN EINEM JAHR MIT 13 MONDEN (1978) und DIE SEHNSUCHT DER VERONIKA VOSS (1982) scheinen sich geradezu demonstrativ dem Zuschauer darzubieten. So, als könnten sie durch ihn Gnade erfahren. Nur die herzlose Tyrannin in DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT (1972/73), der ihre einzige Untertanin abhanden kommt, hofft wohl nicht auf Barmherzigkeit.

Mit der Selbstdarstellung aus existenzieller, wenngleich nicht immer materieller Not hat Fassbinder viel von unserer Zeit vorausgedeutet. Der Wunsch nach Erlösung und Sinnerfüllung durch die Aufmerksamkeit des anderen, die Fassbinder nicht zuletzt in LILI MARLEEN (1980/81) beschrieben hat, ist im Multimedia-Zeitalter, in der Ära von "Facebook" und hunderten von Millionen "Profilen", die nach Responses aller Art gieren, akuter denn je. Die Mentalität des Exhibitionismus mag grenzenlos geworden sein; mit Fassbinder aber lässt sie sich sehr konkret als spezifische Form transzendentaler Obdachlosigkeit begreifen. Inwieweit ein solches Leben im virtuellen Raum stattfinden kann, hat Fassbinder zumindest ansatzweise berücksichtigt: Mit WELT AM DRAHT (1974) nahm er das computergenerierte Paralleluniversum von MATRIX (1999) um ein Vierteljahrhundert vorweg.

Sich dem Blick des anderen zu präsentieren, heißt dabei mitnichten authentisch zu sein. Im Gegenteil, man füllt nur eine bestimmte Rolle aus; eine selbst entworfene oder von anderen diktierte. Und manche Rollen sind stärker als die, die sie spielen. Franz Bieberkopf (Günter Lamprecht) und der Zuhälter Reinhold (Gottfried John) praktizieren in BERLIN ALEXANDERPLATZ (1979/80) Frauentausch, um sich gegenseitig von ihrer Heterosexualität zu überzeugen. Ihre verdrängten homoerotischen Neigungen münden indes in Mord. Die Wirtschaftswunderfrau der Hanna Schygulla im Welterfolg DIE EHE DER MARIA BRAUN (1978/79) geht lieber in den Tod als das selbstgeschaffene Image der "Selfmadewoman" aufzugeben, das durch eine überraschende Entdeckung in Frage gestellt ist. Die Prostituierte der Adenauer-Ära in LOLA (1981), die Barbara Sukowa mit geradezu hypnotisierender Sinnlichkeit gibt, schafft mit ihrer Verführungskunst den Sprung ins bürgerliche Establishment - und kann doch nicht aufhören die Hure zu mimen. Elsaesser eruiert diese Spannungsverhältnisse zwischen Person und Erscheinung recht genau, ohne doch aus seinen Einsichten ein kritisches Fazit zu ziehen.

Während Fassbinders Charaktere an ihren Rollen im Leben verzweifeln, bescherten sie den Darstellern, die sie auf der Leinwand verkörperten, zum Teil sehr großen Ruhm. Wie der Divenstatus von Hanna Schygulla beweist, vermochte Fassbinder seinen Frauengestalten unwiderstehliche Attraktivität zu verleihen. Zudem gaben Fassbinders Schauspieler Randgruppen Stimme und Gesicht, die bis dahin wenig Beachtung fanden: Migranten, Homosexuelle, Transsexuelle, Prostituierte. Bei aller Sympathie blieb Fassbinder seiner Überzeugung treu, dass auch unter Außenseitern der Mensch des Menschen Wolf ist. Wenn diese "Minderheiten" mit ihren Problemen wie ihren spezifischen Lebensentwürfen heute fast schon in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind, erhebt sich die Frage, inwieweit Fassbinder mit seiner "Öffentlichkeitsarbeit" für sie daran Anteil hat.

Trotz aller Tabubrüche war für ihn der Rahmen für die fiktionale Unterstützung ge-sellschaftlicher Emanzipationsversuche immer die Demokratie und die bundesrepub-likanische Variante der Marktwirtschaft. Trimborn verweist in diesem Zusammenhang auf Fassbinders Darstellung von Kommunisten als bourgeoise Heuchler und der Terroristen der RAF in DIE DRITTE GENERATION (1979) als schießwütige Eskapisten. Elsaesser nimmt diese Positionierung und die Produktivität des Kapitalismus bei Fass-binder zerknirscht zur Kenntnis. Er will ihn unbedingt für die Linke reklamieren - trotz Fassbinders sehr deutlichen Worte: "Alle Linken sind Idioten".

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Bücher von Elsaesser und Trimborn, analytisch-wissenschaftlich das eine, anekdotisch-journalistisch das andere, sind beide in ihrer Art hervorragend. Trotz ihrer Schwächen. Elsaesser dringt zu den ästhetischen Grundzügen von Fassbinders Werk vor, auch wenn er allzu sehr einen Meisterregisseur stilisiert, bei dem alles im Keim immer schon angelegt war. Umso höher ist das Verdienst des Biographen Trimborn zu schätzen, an die Brüche, Zufälle und Begegnungen in Fassbinders Karriere zu erinnern - in einem manchmal unwiderstehlich süffisanten Ton, der aus der Kombination betont nüchterner Darstellung mit Statements der Weggefährten erwächst. Aber es fehlen ihm - ebenso wie Elsaesser - Thesen, die mehr als "ein cineastisch interessiertes Nischenpublikum" ansprechen könnten. Das aber hat er sich laut Vorwort für seine fachmännisch recherchierte Chronik von der Wiege bis zur Bahre eigentlich vorgenommen.

So sind der Wirkung von Elsaessers und Trimborns Ansätzen recht enge Grenzen gesetzt. Umso mehr stellt sich die Herausforderung, andere, mutigere Bücher über Fassbinder zu schreiben. Solche, die seiner Zeitlosigkeit, weil unheimlichen Gegen-wärtigkeit in unserem Alltag gerecht werden.




AFTER DARK Film TALK | Facebook | Twitter :: Datenschutzerklärung | Impressum :: version 1.20 »»» © 2004-2024 a.s.