|
Ein tiefer Einblick ins baltische Kino - Zu Besuch auf dem 18. goEast - Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden (18. bis 24. April 2018).
Am Dienstag ging das 18. "goEast - Festival des mittel- und osteuropäischen Films" zuende und wie immer war es für mich an den vier Tagen meines Besuchs vor allem geprägt durch die Qual der Wahl. Wettbewerbsbeiträge gucken, das historische Wissen in der thematischen Reihe Prag 1968 auffrischen oder doch lieber gehobene Schätze in der Retrospektive Hybride Identitäten. Das Kino der Baltischen Länder bewundern? Mein individuelles Sichtungsprogramm entpuppte sich letztlich als eine erwartete Mischung aus allen drei Sektionen - mit einer überraschenden Erkenntnis: Auch kleine Länder können große Filmnationen sein. Konkret: das Baltikum. Ganz konkret: Estland.
Mit NOVEMBER (2017) war auch eine estnisch-polnisch-niederländische Co-Produktion im Wettbewerb zu sehen, die gerade mit ihren hinreißenden Schwarzweiß-Bildern überwältigte. Der estnische Regisseur Rainer Sarnet adaptierte für sein düsteres Märchen, das mühelos und atmosphärisch dicht zwischen pathetisch-schwermütiger Romantik und urkomischen Vulgärhumor hin und her springt, die Romanvorlage ""Rehepapp ehk November" seines Landsmannes Andrus Kivirähk, die schon kurze Zeit nach ihrer Veröffentlichung im Jahr 2000 zu so etwas wie einem Nationalheiligtum avancierte. Dem Film gelingt es dabei auf poetische Weise, estnische Volksmärchen mit Fantasyelementen und christlicher Symbolik anzureichern. Sarnet erzählt eine hemmungslos romantische und tragische Liebesgeschichte und zeichnet zugleich ein Gesellschaftsportrait der armen Landbevölkerung im 19. Jahrhunderts, die ihren als Eindringling wahrgenommenen deutschen Herrscher (Dieter Laser) bestehlen. Soviel Vielschichtigkeit hatte im Wettbewerb auch nicht der starke polnische Beitrag MIRACLE (STEBUKLAS, 2017) zu bieten; eine ätzende Abrechnung mit dem westlichen Kapitalismus. Die Tragikomödie um einen protzigen us-amerikanischen Investor mit polnischen Wurzeln, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Provinz sein Geschäft als Schweinezüchter machen will, erinnert in seinem lakonischen Humor und seiner unterkühlt-schroffen weiblichen Hauptfigur Irena (Egle Mikulionyte) an die Filme von Aki Kaurismäki. Folgerichtig gewann NOVEMVER auch den Hauptpreis, die "Goldene Lilie" als Bester Film - und brannte sich mit jener grotesken Szene, in der eine abtrünnige Kuh von einem beseelten Metallgebilde (einem sogenannten "Kratt") helikopterartig zu ihrem Besitzer zurückgeflogen wird, gar ins kollektive Gedächtnis des Kinos ein.
Ob es in diese Bilderbibliothek jemals eine doppeldeutige Einstellung aus THE LAST RELIC (VIIMNE RELIIKVIA, 1969) schaffen wird, in der Äbtissin-Nichte Agnes auf dem Weg zu ihrer Hochzeit von der großen Lammkeule ihres Retters Gabriel nascht, darf ernsthaft bezweifelt werden. Diese sleazige estnische "Robin Hood"-Interpretation beeindruckt vor allem durch ihre unterhaltende Nimmermüdigkeit: Prügelszenen sind allgegenwärtig, Schlösser sind unerwartet voller Geheimtüren, mit sonorer Timbre gesungene Gitarrenstücke dominieren die Musikuntermalung und ab und an blitzt auch mal eine Referenz an Jess Francos Exploitationfilme auf. Auch im Musical DEVIL'S BRIDE (VELNIO NUOTAKA, 1973), das ebenfalls in der Retrospektive Hybride Identitäten zu sehen war, geht es kurios zu. Ein rothaariger Teufel giert in dieser litauischen Antwort auf JESUS CHRIST SUPERSTAR nach einer holden Blondine - und lässt ihren Vater ergreifend seine Elternliebe zu ihr besingen. Eine farbenfrohe, aufwändige Ausstattung untermalt das auf Dauer etwas anstrengende Dauergeschmetter.
Zu einem unerwarteten Highlight des "goEast" 2018 avancierte im Rahmen der Retrospektive das Kurzfilm-Programm unter dem Titel Pärn, Nukufilm & Co. - Kleines Kino, große Animation. Dahinter verbarg sich ein tiefer Einblick in den scheinbar unerschöpflichen Erfindergeist estnischer Animationsfilme, in dem schon einmal Nägel als Protagonisten dienen (NAIL, NAEL, 1972). Der zugehörige Dokumentarfilm KINGS OF THE TIME (AJA MEISTRID, 2008) beleuchtete dabei die Biographien der estnischen Animationsfilmpioniere Elbert Tuganov und Heino Pars - und der anwesende Regisseur Mait Laas rezitierte im anschließenden, sehr unterhaltsamen Q&A ein den Erfindergeist preisendes Gedicht aus einem zufällig in Wiesbaden auf der Straße gefundenem Goethe-Band. Es lohnt sich also, auch aus dem fernen Osteuropa, seinen Blick aufs Land der Dichter und Denker, genauer: auf das "goEast" in Wiesbaden zu richten - und umgekehrt.
Mehr auf filmfestival-goeast.de
|
|