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Filmkritiker, die ihren Beruf zu wörtlich nehmen, wird wohl oft vorgeworfen, das berühmte Haar in der Suppe zu suchen. Auf dem diesjährigen "goEast"-Filmfestival, das vom 20. bis 26. April in Wiesbaden stattfand, war es kein Haar, sondern ein Kabel, das morphologisch identisch fröhlich, aber störend vor der Linse des Projektors baumelte. Die wirre Strippe machte etwa 15 Minuten von Andrzej Wajdas etwas aus den Fugen geratenem und klischeebeladenem, aber dennoch meisterhaft mit Weitwinkelbildern gefilmtem Industrialisierungs-Epos DAS GELOBTE LAND (1974) durch eine beinahe mittige Teilung des Bildes regelrecht zunichte. "Was kann bei einer DCP schon passieren?", dachte sich wohl der Filmvorführer im Murnau-Filmtheater (einer der insgesamt drei Spielorte in der hessischen Landeshauptstadt), der bereits einige Zeit seinen Arbeitsplatz verlassen hatte.
Diese Episode klingt wie eine Randnotiz, fördert aber eine zentrale Beobachtung zutage: Es ist auch beim "goEast" nicht mehr selbstverständlich, dass bei Klassikern die guten, alten und zum Teil liebenswert ramponierten 35 mm-Filmrollen durch den Projektor rattern. Und wenn es doch einmal vorkommt, stimmen in beunruhigender Frequenz Bildstand oder -format nicht oder zeugen auch sekundenlange Dunkelheit zwischen den Rollen davon, dass die große Handwerkskunst des Filmvorführens durch die Digitalisierung im Verschwinden begriffen ist.
Glücklicherweise jedoch kann sich das kleine Festival auch zu seinem 16. Geburtstag auf seine hervorragende Programmatik verlassen, besonders im Bereich der Retrospektive. Vier Filme von Andrzej Wajda (siehe oben) liefen anlässlich seines jüngsten 90. Geburtstags und das Nationale Filmarchiv des Slowakischen Filminstituts präsentierte das mit wunderschönen Naturaufnahmen aufwartende und in stillen Momenten ungeheuer intensiven Drama DRACHE KEHRT HEIM (1967) von Eduard Grecner in einer hervorragend gelungenen digital restaurierten Fassung.
Das von Olaf Möller kuratierte Symposium mit dem sperrigen Titel "Die im Schatten - Verbrechen und andere Alltäglichkeiten im mittel- und osteuropäischen Kriminalfilm ab 1945" bescherte dem Zuschauer darüber hinaus einige Perlen unter dem Genrefilm. EIN KRIMINALKOMMISSAR KLAGT AN (1974) von und mit Sergiu Nicolaescu beweist, dass der Polizeithriller mit sleazigen Zutaten von lederbejackten Antagonisten und nebligem Dauergeballer über konstruierten Actionszenen mit reichlich Pyrotechnik und Porno-Musik nicht nur in Italien, sondern auch Rumänien durchaus zuhause ist. Zoran Tadic, der in Jugoslawien den Hickokovci ("Hitchcockianer" als Vertreter einer Kinoreformbewegung) zugerechnet wird, kommt mit seinem ultraspannenden RHYTHMUS DES VERBRECHENS (1981) ungleich subtiler daher. Ganz im Stile des "Master Of Suspense" holt sich der allein lebende Ivica (Ivica Vidovic) den spleenigen Alten Fabijan (Fabijan Sovagovic) ins Haus, dessen Hobby, Kriminalstatistik, bald eine merkwürdige und bitterböse Eigendynamik im Stile von "self-fullfilling prophecies" entwickelt. Für die größte Überraschung beim Blick ins Programmheft sorgte allerdings PASSION von György Fehér, der seinem Berufskollegen Béla Tarr verpflichtet scheint. Die langen und mit schwachen Kontrast gefilmten Schwarz/Weiß-Einstellungen seiner "Wenn der Postmann zweimal klingelt"-Adaption wirken wie aus den 60er Jahren, wurden jedoch tatsächlich von 1995 bis 1998 gedreht. Eng an der literarischen Vorlage bricht das Drama an einer bitterbösen Wendung hochgradig moralisch ab.
Bei soviel Retrospektive blieben mir leider nur wenige Einblicke in den diesjährigen Wettbewerb, die sich jedoch allesamt als enttäuschend erwiesen. So versuchten einige Beiträge zumindest, die Konventionen des dieses Jahr sehr präsenten Genrekinos zu adaptieren - allerdings mit wenig Erfolg. Der kasachischen Filmemacherin Zhanna Issabayeva gelang es mit ihrem Horror-Gesellschaftsdrama-Zwitter BOPEM jedenfalls nicht, schaurig-schöne Einstellungen des ausgetrockneten Aralsees, unmotivierte Anflüge blutiger Gewalt, Alltagstristesse und blühende Mohnfelder (letztere als visuell eindrucksvoller, aber verkitschter Rückblick) zu einem kohärenten Ganzen zu montieren. Und ORIZONT von Marian Crisan weckt zumindest durch ein unpassendes Filmplakat (blutiges Messer) die falsche Erwartungshaltung eines brutalen Horrorthrillers, obwohl sich das Duckmäuserdrama eher in langen Dialogszenen und Männermachtspielchen statt in Spannung erschöpft. Beim Haar in der Suppe bin ich also durchaus fündig geworden - bei längst vergessenen Genre-Perlen jedoch auch.
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