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Reportage.
13. go East - Festival des mittel- und osteuropäischen Films
von David Leuenberger

13. go East - Festival des mittel- und osteuropäischen Films

Juraj Krasnohorský mag keine 3D-Filme. Im Gespräch mit dem Publikum meinte der slowakische Regisseur, dass davon zu viele in seiner Heimat gedreht würden - zu viele Filme aus "Depression, Drugs & Death". Das wollte er anders machen, und sein erster abendfüllender Spielfilm, TIGER IN DER STADT, wurde eine leichte Sommerkomödie - mit einem kleinen Twist! Staatsanwalt "Dachs", Zoowärter "Hyäne" und Bademeister "Taube" (die Kosenamen sind Verballhornungen richtiger slowakischer Nachnamen) sind allerbeste Kumpels, und alle drei suchen nach der Liebe. Das gestaltet sich komplizierter als gedacht. Denn der Staatsanwalt "Dachs" ist in die Stimme einer russischen Radiomoderatorin verliebt. Deren Bruder, ein latent depressiver Hitman der russischen Mafia, hat jedoch den Auftrag, "Dachs" zu ermorden. In die Fitnesstrainerin des Mafioso hat sich hingegen "Hyäne" verguckt, während "Taube" hinsichtlich seiner Liebespräferenzen unentschieden, wahrscheinlich aber in seinen Kumpel "Dachs" verliebt ist. Zwischen diversen verkorksten Mordanschlägen und nicht immer sehr gelungenen Flirtversuchen geht auch noch eine Miezekatze verloren. Trivial? Auf jeden Fall! Weniger gewöhnlich ist hingegen, dass "Dachs", ein heterosexueller Mann Ende Zwanzig, von der Schauspielerin Kristína Tóthová gespielt wird, die mit nachsynchronisierter männlicher Bass-Stimme spricht. Dieser kleine Twist ging von der Prämisse aus, den ganzen Film aus der Perspektive von "Dachs‘" Seele zu präsentieren - und die sei in materialisierter Form eben weiblich. Krasnohorskýs Konzept lockert eine im Prinzip sehr triviale Komödie auf und hinterfragt auf witzige Weise klassische Gender-Stereotype. Doch es sind letztlich auch die energische Regie, der herrliche Humor, die hervorragenden Darsteller und die wunderbare Einbettung der Stadt Bratislava in die Handlung, die für ein rundum gelungenes Filmvergnügen sorgen. Und das ganz, oder zumindest größtenteils ohne 3D!

Der sympathische Regie-Neuling aus der Slowakei und sein außerhalb des Wettbewerbs laufender Spielfilm-Debüt setzten beim 13. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films in Wiesbaden ein markantes Zeichen gegen ein Klischee des osteuropäischen Kinos, das gerade hierzulande gerne konstruiert wird: zeitgenössische Filme aus Osteuropa seien sperrige und problemorientierte Sozialdramen, die viel zu trübselig und schwermütig seien, um wirklich genossen zu werden - "3D-Filme" eben. Das ist eigentlich Quatsch, genauso wie die hierzulande gerne betriebene "Erfindung" des französischen Kinos als bunter Blumenstrauß frischer "Sommerkomödien", die fluffig-lockere Unterhaltung mit "sozialer Relevanz" verbinden. Richtig hartnäckig werden aber solche Klischees, wenn ihre relativ geringe faktische Basis dann auch noch öffentliche Bestätigung findet. Das Wiesbadener goEast-Festival zeigt jedes Jahr die atemberaubende Vielfältigkeit des osteuropäischen Kinos - und prämiert letztlich trotzdem ausgerechnet jene zwei von zehn Wettbewerbsbeiträgen, die das Klischee der schwermütig-deprimierenden Sozialrelevanz-Keule in 3D bestätigen.

Der Gewinner des diesjährigen Škoda-Filmpreises ist die georgisch-deutsche Produktion DIE LANGEN HELLEN TAGE der Regisseure Nana Ekvtimishvili und Simon Groß: ein Coming-of-age-Drama über zwei Schulmädchen, das in Georgien kurz nach dem Zerfall der UdSSR angesiedelt. Die zeithistorische "Einbettung" der Geschichte soll uns Zuschauern wohl anscheinend irgendein Lebensgefühl aus der Zeit der politischen Transformation vermitteln. Doch weder Leben noch Gefühl mögen in diesem emotional sterilen und nichtssagenden Film aufkommen, der - so unmotiviert wie seine beiden jungen Hauptdarstellerinnen schauspielern - Gemeinplätze des Sozialdramas aneinander reiht: ein bisschen dysfunktionale Familie hier, ein bisschen latent gewalttätiges Sozialbau-Milieu dort, dazwischen ein paar Holzschnitt-Charaktere (betrunkener Vater, mobbende Schulkameraden und eine Riege hohlköpfiger Macho-Halbstarker) und zu guter letzt ein "offenes Ende" wie aus der Arthouse-Klischeekiste.

Den Preis der Landeshauptstadt Wiesbaden für die beste Regie hat der verhältnismäßig ausstehlichere Film KREISE des serbischen Regisseurs Srdan Golubovic gewonnen. Hier wird ein serbischer Soldat für einen Akt der Zivilcourage gegenüber einem bosnischen Händler von seinen Kollegen ermordet, und noch Jahre später müssen Verwandte und Freunde des Opfers, des Geretteten und der Täter die Folgen dieses Ereignisses bewältigen. Die Komponenten des Ost-Kino-Klischees (ein bisschen Trübsinn und Ernst-Gucken, irgendwas mit vergangenen Kriegen, eignet sich gut als Vorlage für soziologisch-kritische Essays) sind hier in diesem Episodenfilm alle vorhanden. In den wenigen ruhigen, fast meditativen Momenten, in denen Golubovic seine Sozialrelevanz-Prätentionen gehen lässt und sich ernsthaft den Gefühlswelten seiner Figuren zuwendet, entwickelt der Film dennoch eine gewisse Faszination. Die preisgekrönte Regie ist jedoch trotzdem über weite Teile der fast zwei Stunden erstaunlich banal.

13. go East - Festival des mittel- und osteuropäischen Films

Dass ausgerechnet die Sozialrelevanz-Einheitsbrei-Sparte die (nicht) zufälligerweise preisgekrönteste ist, sollte nicht über die hohe Qualität und Originalität anderer Wettbewerbsbeiträge hinwegtäuschen. DIE HIMMELSBRÄUTE DER WIESEN-MARI hat nicht nur den Preis des Auswärtigen Amts ("für künstlerische Originalität, die kulturelle Vielfalt schafft"), sondern verdientermaßen auch den Preis der internationalen Filmkritik/FIPRESCI-Preis gewonnen. Als "russisch" ist der Film Aleksey Fedorchenkos nur bedingt zu bezeichnen, denn er ist fast komplett in der Sprache der Mari, eines finno-ugrischen Volks im Volga-Gebiet, gedreht worden. In 22 losen Episoden erleben wir, konsequent aus der Perspektive junger Frauen erzählt, Märchenerzählungen der Mari, mit ihren Feen, Waldhexen, verzauberten Bäumen, Zombies, Geisterbeschwörungen, mutierten Körperteilen und mit einer ganz gehörigen Portion an herrlich derben Sexwitzen. Ein faszinierendes Paralleluniversum entwickeln Regisseur Aleksey Fedorchenko und Drehbuchautor Denis Osokin in ihrer zweiten Zusammenarbeit. Einige Episoden sind kleine Kurzfilme, mit eigener Dramaturgie, einem eigenen Spannungsbogen und einer abgeschlossenen Geschichte. Andere wiederum sind fast bis zur völligen Abstraktion verkürzt. Elemente der Fantastik (zwischen naturreligiösem Aberglauben und groteskem Horror) und der Erotik (zwischen poetisch und derb) haben sie alle gemeinsam. Die Episoden sind nach der jeweiligen weiblichen Hauptfigur benannt (deren Vornamen stets mit "O" beginnt), doch die Übergänge zwischen ihnen sind so fließend und so ambivalent, dass ein Bewusstseinsstrom in Filmform entsteht, in dem man nur eines erwarten kann: das Unerwartete. Trotzdem DIE HIMMELSBRÄUTE DER WIESEN-MARI viel von einem reinen Experimentalfilm hat, erhielt er bei seiner Deutschland-Premiere in der Caligari FilmBühne nicht nur zahlreiche herzliche Lacher, sondern am Ende auch tosenden Applaus.

VERRAT, der andere Spielfilm-Wettbewerbsbeitrag aus Russland, fiel hingegen beim Publikum glatt durch: immer wieder erfüllten höhnisches Gelächter, abfällige Bemerkungen und ab Mitte der Vorführung ein auffallend lauter Gesprächs-Geräuschpegel den Kino-Saal. Das ist schade, handelt es sich doch um ein starkes Werk. Das ist aber auch insofern nachvollziehbar, als dass Kirill Serebrennikovs fünfter abendfüllender Film auch sperrig, kryptisch und hochgradig beanspruchend ist und das Publikum nicht gerade offen umarmt. Die Ausgangslage ist denkbar einfach: eine Ärztin teilt einem Patienten mit, dass ihre jeweiligen Ehepartner sie miteinander betrügen. Ein Neo-Noir-Eifersuchtsmelodrama beginnt, und wenn die Ärztin und der Patient (beide Betrogenen bleiben namenlos) die Seitensprung-Stationen ihrer Ehegatten aufsuchen, dann erinnert das nicht ganz zufällig an Scotties Verfolgung der Madeleine in VERTIGO. Doch ein makabrer Doppelmord bringt eine unerwartete Wendung und spätestens ab da beginnt der Film, sich einfach selbst aufzulösen. Die Erzählung wird zunehmend elliptisch, Figuren verschwinden genauso wie ganze Handlungsstränge, um an unerwarteter Stelle wieder in veränderten Konstellationen aufzutauchen. Mit zunehmender Laufzeit wird das klassische Neo-Noir-Gerüst stets heftiger von Horror-Elementen, wildem Surrealismus und reiner Hysterie durchbrochen. Der Schluss lässt nur Verwirrung und ungelöste Fragen übrig. Der fiebrige Film-Alptraum VERRAT weist durchaus Parallelen zu David Lynchs Thrillern auf, ist aber noch wesentlich konsequenter in seiner Unberechenbarkeit. In wohltuender ausgleichender Gerechtigkeit zur verhaltenen Publikumsreaktion wurde der Film von der Festivaljury lobend erwähnt.

Noch mehr als Russland hat Rumänien dieses Jahr beim goEast-Festival starke Wettbewerbsbeiträge präsentiert. Besonders Adrian Sitarus DOMESTIC erschien dem Verfasser als der eigentlich ideale Kandidat für den Hauptpreis des Festivals, doch schlussendlich wurde er in der Pressemitteilung zu den Preisverleihungen noch nicht einmal erwähnt! In seinem dritten abendfüllenden Film behandelt Adrian Sitaru, der mit der ominösen "Neuen Rumänischen Welle" gerne in Verbindung gebracht wird, die zwischenmenschlichen Beziehungen in einem Bukarester Mietshaus - und zwar anhand ihres Verhältnisses zu domestizierten Tieren! Die Katzen, Hunde, Hühner, Hasen und Tauben werden von der Straße aufgesammelt, wieder ausgesetzt, untereinander ausgetauscht, mit Liebe und Zärtlichkeit bedacht, gepflegt, verstoßen, wieder aufgenommen. Manche fliehen, andere landen in den Weihnachtskochtopf, und die nächsten entwickeln sich zu vierbeinigen Symbolen zerbrochener Ehen. In losen Episoden präsentiert sich nach und nach ein menschliches-tierisches Panorama, ein tragikomisches Kollektivportrait der Mietshausbewohner (ob sie nun zwei Beine oder vier Pfoten haben). Formal ist DOMESTIC überaus streng inszeniert: jede Episode ist in einer einzigen Plansequenz gefilmt und kann auch mal über zehn Minuten dauern. Dass dies weder prätentiös noch pompös-langweilig wird, liegt am tollen und engagierten (menschlichen wie tierischen) Schauspieler-Ensemble, das dem ihm gebotenen filmischen Raum mit viel improvisatorischem Witz zu nutzen versteht und dem Film eine berührende humanistische Note verleiht.

Im Gegensatz zum mittelständisch-bürgerlichen Milieu Bukarests in DOMESTIC zeigt Marian Crisans ROCKER ein Leben an den sozialen Rändern der siebenbürgischen Provinz: Victor, ein gescheiterter Rockmusiker mit angegrauten Haaren und denselben Rocker-Klamotten wie in seinen 20ern, kümmert sich um seinen drogensüchtigen Sohn, der in einer leidlich erfolgreichen Provinz-Rockband singt. Victor hält sich mit Hilfsjobs und kleinen Betrügereien über Wasser und versucht nebenbei auch noch, eine geordnete Beziehung mit einer allein-erziehenden Friseurin zu führen. Viel mehr Handlung hat ROCKER nicht zu bieten, auch wenn das für Victor schon allerhand ist, was es zu meistern gilt! Und genau darauf konzentriert sich Crisans zweiter abendfüllender Film: er gewährt den Zuschauern einen Blick in einige Tage aus dem Leben Victors. Dabei verzichtet er nicht nur auf explizite sozial-politische Kommentare, sondern auch sehr konsequent auf Spannungsbögen, klassische Erzähldramaturgie, traditionelle Aktion-Reaktion-Schemen, moralisierende Figurenentwicklung und auf jegliche Kohärenz zwischen den vielen kleinen Momenten. Dass der Film nicht auseinander- oder in sich zusammenfällt, dafür sorgt der großartige Dan Chiorean, seines Zeichens Schauspieler am Nationaltheater Cluj-Napoca. In seiner ersten Filmrolle als Victor kann er mit seinem markanten Schauspiel alles, worauf der Film sonst verzichtet, mehr als kompensieren. Eindringlich spielt Chiorean einen Mann, der in seiner Verantwortung für sich selbst und andere Menschen all seine Gefühle unterdrücken muss, nur um sie in der Musik umso wilder und ungezügelter ausleben zu können.

13. go East - Festival des mittel- und osteuropäischen Films

Jenseits des Wettbewerbes wurden zwei große aktuelle Highlights präsentiert: dezidiert politische Filme, die in ihrer jeweiligen Heimat aufgrund ihres höchst kontroversen Themas für Furore sorgten. NUR DER WIND des diesjährigen goEast-Jurypräsidenten Benedek Fliegauf handelt von einer realen Mordserie an ungarischen Roma und präsentiert den Lebensalltag einer Roma-Familie. Sicherlich ist ein solcher Film im neuen Ungarn Viktor Orbáns, wo ethnische, sexuelle und kulturelle Minderheiten immer weniger zu lachen haben, an und für sich ziemlich mutig. Dass Fliegauf auf Sentimentalität, Sozialromantik und Pädagogik verzichtet, ist zwar grundsätzlich auch nicht falsch und sogar begrüßenswert. Doch der ungarische Regisseur hat dabei gleich auch jeglichen Humanismus beiseite gelassen: die Grenze zwischen "realistischer" Milieustudie und Sozialpornografie, zwischen "lebensnaher" zeitgenössischer Roma-Ethnografie und purem Armuts-Voyeurismus, zwischen "ambitioniertem" Autorenfilm und exploitativer Trash-TV-Ästhetik, ist hier bedenklich dünn. Die unsäglichen digitalen Wackelbilder tun ihr übriges, um den dargestellten Roma-Figuren (zugegeben wohl entgegen der Intention des Regisseurs) ihrer Würde zu berauben: Das flaue Gefühl im Magen kommt daher nicht nur von der "motion sickness"!

In Polen letztes Jahr noch weitaus kontroverser aufgenommen wurde Wladyslaw Pasikowskis NACHLESE, der in einem Schlag die polnische Beteiligung an antijüdischen Massakern im Zweiten Weltkrieg und den zeitgenössischen Antisemitismus in Polen thematisierte. Damit wärmte der Film in Polen die Kontroverse um Jan Tomasz Gross‘ Buch "Nachbarn" wieder auf, das auf die maßgebliche polnische Beteiligung bei der Vernichtung der jüdischen Gemeinde der Kleinstadt Jedwabne im Sommer 1941 hinwies. In NACHLESE birgt ein Bauer im heutigen Polen jüdische Grabsteine, die in einer nunmehr gesperrten Landstraße als Pflastersteine missbraucht worden sind, und stellt sie in seinem Getreidefeld auf. Sein Bruder, der aus den USA zu einem Kurzbesuch angereist ist, versucht nach und nach, ihn unterstützen. Die Anfeindungen aus dem Dorf werden jedoch stets aggressiver und brutaler. Zwischen Realismus, Horrorthriller-Ästhetik und stilisierter Poetik angesiedelt, versetzt NACHLESE mittels oft drastischer Bilder dem bereits bröckelnden polnischen Opfernarrativ-Mainstream einen wuchtigen Schlag ins Gesicht. Ein so engagiertes wie schmerzhaftes Plädoyer gegen Antisemitismus.

Wie jedes Jahr zeigte das goEast-Festival abseits der aktuellsten Filme aus Osteuropa ein überaus reichhaltiges Retrospektiven-Programm: dieses Jahr standen cinematographische Rebellen im Mittelpunkt, die in jenen zwei realsozialistischen Ländern mit der liberalsten Kulturpolitik die Grenzen künstlerischen Ausdrucks austesteten - die Regisseure der "Jugoslawischen Schwarzen Welle" und der Ungar Miklós Jancsó.

Der italienische Neorealismus und die französische nouvelle vague haben bekanntermaßen in den frühen 1960er Jahren auf der ganzen Welt Kinoreformbewegungen inspiriert, sei es in Großbritannien, in Deutschland, oder in den USA. Auch im realsozialistischen osteuropäischen Film fanden große Umbrüche statt. Am ehesten bekannt dürfte die Tschechoslowakische Neue Welle sein. Bis heute weitaus obskurer ist die Kinoreformbewegung in Jugoslawien. Deren Bezeichnung geht auf einen Zeitungsartikel mit dem Titel "Die Schwarze Welle in unserem Kino" aus dem Jahre 1969 zurück, in dem die neuen Filmtendenzen scharf kritisiert und verurteilt wurden. Die Losung wurde später von einigen Regisseuren als Label positiv umgedeutet und übernommen.

13. go East - Festival des mittel- und osteuropäischen Films

Gemeinsam war den Filmen der "Schwarzen Welle" nicht nur ein großes ästhetisches Selbstbewusstsein und eine formale Experimentierfreudigkeit, sondern auch eine kritische, ironische, spöttische und oft pessimistische Sicht auf die jugoslawische Gegenwart und Vergangenheit - kurz: eine Hinterfragung gängiger jugoslawisch-sozialistischer Dogmen. Dass diese Kriterien vielleicht etwas schwammig klingen mögen, hängt sicherlich mit der Vielfalt der Filme zusammen, die der "Neuen Jugoslawischen Welle" zugeordnet werden können.

Wahrscheinlich mehr noch als das Dogma der "Brüderlichkeit und Einigkeit", das Jugoslawien zum Vielvölker-Paradies erklärte, diente das Narrativ des heldenhaften Partisanenkriegs als die zentrale Legitimationsgrundlage des titoistischen Staates. DREI von Aleksandar Petrovic, der 1966 für den Oscar des besten fremdsprachigen Films nominiert war, erzählt vom Krieg als individuelle Leidensgeschichte, deren Protagonist zwischendurch fast schon Christus-artige Züge annimmt, jedoch bei Kriegsende geradezu in vollkommener moralischer Orientierungslosigkeit weiterlebt bzw. weiterleben muss. Die Hauptfigur ist in der ersten von drei Episoden noch ein Student, der nach Bombardierung Belgrads an einem Bahnhof beobachtet, wie ein Mann von einer aufgebrachten Menschenmenge gelyncht wird. Im zweiten Teil flieht er als Partisan alleine vor deutschen Soldaten. Ein anderer flüchtiger Partisan schließt sich ihm an, wird jedoch gefangen und wenig später brutal ermordet. Bei Kriegsende ist der Protagonist mittlerweile Kommandant einer Einheit der Volksbefreiungsarmee und befehligt Todesurteile gegen Kollaborateure. Dabei verliebt er sich (platonisch) in die ehemalige Geliebte eines Gestapo-Offiziers. Die Erzählung von DREI war dramaturgisch überaus provokativ. Weder steht ein Partisanen-Kollektiv im Vordergrund, noch ein positiver Partisanenheld. Der Sieg von Titos Soldaten beginnt mit summarischen Todesurteilen in einem schlammigen Hinterhof. Der überaus pessimistischen und hoffnungslosen Grundstimmung von DREI stehen seine wunderbaren und expressiven Bilder gegenüber: sei der Tanz der Kamera um einen tanzenden Bären, die verzweifelte Flucht durch ein sonnendurchflutetes, schilfbewachsenes Sumpf, oder die sehnsuchtsvollen Blicke auf die Todgeweihte. Die Wucht und Poesie der Bilder tragen Petrovics fast gänzlich dialogfreies Triptychon.

Poesie wird man in FRÜHE WERKE von Želimir Žilnik aus dem Jahre 1969 genauso wenig finden wie eine stringente Handlung: einige Marx-zitierende Studenten ziehen durch das Land, um ihre frohe Botschaft unter die Menschen zu bringen. Das ist aber tatsächlich nur das sehr spärliche Rudiment für eine Aneinanderreihung kurzer Gedankenskizzen und Handlungsellipsen. Zwischendurch wird auch mal ein Auto in die Luft gesprengt. Žilniks Film präsentiert sich als linksradikale Systemkritik an einem Staatssozialismus, das als verspießt wahrgenommenen wurde. Ob dieser Ausläufer der 68er-Bewegung, der zwischendurch auch schwarzen Humor und Fäkalwitze einsetzt, wirklich ernst zu nehmen ist, bleibt dem Zuschauer selbst überlassen. In Jugoslawien wurde der Film als "anarcho-liberal" streng verurteilt. Žilnik wurde aus dem Bund der Kommunisten ausgeschlossen und verließ danach für einige Jahre Jugoslawien.

Im Gegensatz zur visuellen Poesie von DREI und zur Polit-Provokations-Collage von FRÜHE WERKE wirkt die Erzählung von Živojin Pavlovics ROTER WEIZEN aus dem Jahr 1970 fast schon geradlinig. Wie der auch beim Festival gezeigte HANDSCHELLEN von Krsto Papic thematisiert ROTER WEIZEN den Bruch zwischen Tito und Stalin Ende der 1940er Jahre. Die Hauptfigur ist ein junger Partei-Aktivist, der in einem slowenischen Dorf für die landwirtschaftliche Kollektivierung agitiert. Sehr schnell beginnt er, seine politische Macht auszunutzen. Er beutet die Bauern aus, frisst und säuft sich auf deren Kosten regelrecht voll und versucht schlussendlich auch, sich die Frauen des Dorfes sexuell gefügig zu machen. Am Ende wird er zwar zur Verantwortung gezogen, aber nicht aufgrund seiner zahlreichen Verfehlungen: als Stalin-Anhänger fällt er der antistalinistischen Säuberungswelle zum Opfer und findet sich in einer Zelle mit jenen Leuten wieder, die er selbst ins Gefängnis gebracht hat. Pavlovics Film, der mit sehr spöttischem Blick die politischen Verhältnisse in einem jugoslawischen Dorf seziert, beginnt als relativ geradliniges Melodrama, entwickelt sich aber nach und nach zu einer derb-erotischen Groteske mit hohem Sleaze-Faktor (wilder betrunkener Sex in einem Pferdestall inklusive).

13. go East - Festival des mittel- und osteuropäischen Films

Eine etwas andere und naturgemäß weitaus konsistentere Form cinematographischen Rebellentums stellen die Filme Miklós Jancsós für ihre überlangen, eleganten und komplex choreografierten Plansequenzen sowie für ihre fast bis zur Abstraktion stilisierten Handlungen in historischen Settings Berühmtheit erlangt haben.

DIE MÄNNER IN DER TODESSCHANZE (1965) und STERNE AN DEN MÜTZEN (1967) bilden als Filme über politische Gewalt thematisch und ästhetisch eine Einheit in Jancsós Werk. In ersterem versuchen die Wärter eines Gefangenenlagers in der ungarischen Steppe, mittels Psychoterror und Folter den Willen internierter Bauernaufständischer zu brechen. In letzterem hetzen sich Rotgardisten und Weißgardisten im Russischen Bürgerkrieg durch eine Steppenlandschaft, und sind dabei gefangen in einem endlosen Kreislauf aus Verfolgung, Gefangennahme und Massenhinrichtung, wobei mal die eine, mal die andere Seite die Oberhand gewinnt. Beide Filme sind überwiegend in der freien Natur gefilmt. Das Schauspieler-Ensemble - eine "Hauptfigur" gibt es nicht oder allenfalls für wenige Minuten - wird durch diesen endlosen Cinemascope-Raum choreografiert. Dabei finden oft mehrere Handlungen parallel statt, sei es im Bildhintergrund oder off screen.

Anfang der 1970er Jahre radikalisierte Jancsó die ohnehin große Stilisierung der Handlungen, bis davon nur noch reine Symbolik beziehungsweise, wie manch ein Kritiker meinte, gar nichts mehr übrig blieb. In ROTER PSALM mag es um einen Bauernaufstand im Ungarn des ausgehenden 19. Jahrhunderts gehen, und in MEINE LIEBE - ELEKTRA um eine modernisierte Fassung der mythologischen Sage. Um in letzterem die "Frage nach dem Stellenwert von Wohlstand, Freiheit und Gerechtigkeit" lesen zu wollen, wie im Programmheft des Festivals, braucht es wahrhaftig eine sehr großzügige Bereitschaft dazu, um drei Ecken zu interpretieren. Denn in beiden Filmen haben die Plansequenzen einen Autopilotmodus erreicht (MEINE LIEBE - ELEKTRA soll einen rekordverdächtigen average shot lenght von 350 Sekunden haben): die Kamera fährt fast schlafwandlerisch durch tanzende, singende, paradierende und reitende Menschengruppen. Manchmal gibt es Dialoge, aber ihre rhythmische Sprachmelodie scheint stets wichtiger zu sein als der Inhalt. Viel öfter gibt es aber (intradiegetische) Musik. Die narrative Leere beider Filme kann man beklagen. Oder man kann sie beide als die vielleicht experimentellsten und abstraktesten Musicals wertschätzen, die jemals gedreht wurden.

In seinem Transformationsfilm GOTT GEHT RÜCKWÄRTS (1990) sind die Plansequenzen nicht unbedingt kürzer geworden. Jedoch hat Jancsó wieder zu rudimentären Narrationsstukturen zurückgefunden, wenn er in einer überaus wirren und chaotischen Handlung seine Eindrücke der politischen Transformation in Ungarn zeichnet. Zwei Elemente haben sich noch stark geändert: die unendlichen Weiten der ungarischen Steppe sind den geräumigen Hallen einer Villa gewichen. Außerdem zeigt sich, dass Jancsó, seinen oft pessimistischen und düsteren Frühwerken zum Trotz, eine erkleckliche Menge an Humor an den Tag legen kann: die zwei Journalisten, die eigentlich nur einen nationalistischen Politiker interviewen wollten und in eine von allerlei komischen und/oder bewaffneten Leuten belagerten Villa landen, geraten nicht nur bedrohliche, sondern auch in Situationen voll absurder Komik.

13. go East - Festival des mittel- und osteuropäischen Films

Wie sehr Jancsó sich im Laufe der Jahre gewandelt hat und dabei sich selbst trotzdem immer treu geblieben ist, hat die diesjährige goEast-Hommage-Sektion sehr anschaulich demonstrieren können, gewissermaßen nach dem Motto "Vielfalt in Einheit". Von einer Einheit des osteuropäischen Kinos, ob zeitgenössisch oder retrospektiv, kann sicherlich keine Rede sein. Doch von dessen erstaunlichen Vielfalt hat das goEast-Festival auch 2013 einen guten Eindruck vermitteln können.

Mehr auf filmfestival-goeast.de

 



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