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UNENDLICHE TIEFEN

Reportage.
Around The World In 14 Films
von Björn Lahrmann

Around The World In 14 Films

"Weltkino": Das sagt sich immer so leicht. Auf den holprigen Distributionswegen der Filmindustrie bleiben immer mehr Reisende auf der Strecke, gehen verloren zwischen Blockbustern in der ersten und Arthaus-Indies in der zweiten Klasse. Nicht umsonst schimpft man den Globus beizeiten ein Dorf: Es herrscht piefigster Provinzgeschmack allüberall. Filmemacher, die es im bequemen Schoß der Masse nicht aushalten und an den Rändern des Publikums ihr Glück versuchen, werden selten je dafür belohnt: Ein Visum in Form eines Verleihs beantragen sie meist vergeblich, und wem nicht die illegale Einwanderung per Stream oder Torrent gelingt, der bleibt auf ewig unsichtbar, eine Fußnote in den Katalogen der Festivals, den letzten Auffanglagern für heimatsuchende Exilanten. In Berlin gibt es davon gottlob eine ganze Menge, und "Around the World in 14 Films", das Ende letzten Jahres zum vierten Mal statt fand, zählt schon jetzt zu den unverzichtbarsten. Erklärtes Ziel der Festivalmacher ist es, eine klaffende Lücke der akut premierengeilen Berlinale zu schließen: nämlich einen Überblick über Filme zu liefern, die im vergangenen Kinojahr bei anderen namhaften Festspielen – Venedig, Toronto, Wien etc. – für Aufsehen gesorgt haben.

Eröffnet wird die neuntägige Weltreise von Ramin Bahranis GOODBYE SOLO. Der iranischstämmige US-Regisseur, von niemand geringerem als Roger Ebert zum new great American director ausgerufen, erzählt die Geschichte des ansteckend lebensfrohen senegalesischen Taxifahrers Solo, der sich in einem Nest in North Carolina eine stabile Existenz aufgebaut hat. Ihm zur Seite gesellt sich bald der knurrige White-Trash-Opa William, der Solo für eine unverhohlene Selbstmordtour anheuert. Im Korsett des Buddy Movies verschnürt Bahrani genug aktuelle Lebenswirklichkeit, um über anfängliche Genrekonformismen hinweg zu trösten: An William und Solo erprobt er Festigkeitsgrade und Verfallsdaten amerikanischer Lebensentwürfe ebenso wie das Dilemma des Freiheitsdrangs, an dessen Zielpunkt entweder die völlige Auflösung sozialer Eingebundenheit oder das Gefängnis der daily routine warten. Seine theatralitätsentschlackte Schauspielführung und die bestechend klaren Bilder, die er für kleinstädtische Strukturen findet, haben Bahrani den Stempel des Neo-Neorealismus eingebracht; dem entzieht er sich jedoch am Ende mit einem hypnotisch irrealen Naturtableau, das einen im Schwebezustand aus dem Saal entlässt.

Around The World In 14 Films
Around The World In 14 Films

Die alte Tante Naturalismus ist also nach wie vor präsent im internationalen Kinogeschehen. Das beweist auch die australische Teenage-Angst-Ballade SAMSON & DELILAH, einer von zwei lose auf Bibelstoffen basierenden Filmen. Wo jedoch der andere – Albert Serras hypermanieristische Dreikönigsgeschichte BIRDSONG – die museale Strenge seiner schwarz-weißen Pampagemälde parodistisch untergräbt, indem er die darin herumtapsenden Weisen als orientierungslose Trottel hinstellt, missbraucht SAMSON & DELILAH seine ausgesucht harsche Wirklichkeitsmimesis als Fassade, hinter der sich gemeinster sozialromantischer Kitsch verbirgt. Der als definitionsoffene Chimäre durch die Blogs geisternde Begriff des "Festivalfilms" manifestiert sich hier in seiner schlimmsten Form: als verlogenes feelbad movie, dessen vermeintliche Einblicke in die Lebensumstände einer trostlosen Aborigine-Kommune auf abgeschmackten Prekariatstourismus hinaus laufen. Dass sowas am Ende den Preis des Instituts für Auslandsbeziehungen bekommt, versteht sich beinahe von selbst.

Ein Festivalfilm schönster und reinster Sorte (sprich: in anderer Form praktisch unverkäuflich) ist dagegen BORDER. Protagonist der rein visuell erzählten Parabel ist ein Büffel, der an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze seinen Häschern entflieht. Bevor im Schlachtennebel der Krisenregion die unvermeidliche Allegoriekeule zuschlägt, erweist sich Regisseur Harutyun Khachatryan als unpolemischer Humanist, der weder die arme Kreatur zum Engel noch die Menschen zu Teufeln stilisiert; selbst der unbarmherzige Dorfvorsteher wirkt in der Abendsonne wie ein argloses, dickes Kind. Mit dokumentarischem Gleichmut parallelisiert der Film Religiöses und Profanes, Tierlaute und Stimmengewirr, Schlachthofszenen und Butterabrahmung. Formalästhetisch ist BORDER zwar eher ein Gemischtwarenladen – neben offensichtlichen Anleihen bei Bressons ZUM BEISPIEL BALTHASAR liebäugelt Khachatryan mit lehrbuchhaften Attraktionsmontagen und mystisch glühenden Elementarpanoramen à la Tarkowski –, jedoch fällt es schwer, sich seinen malerischen Kompositionen und feuchten Büffelblicken zu entziehen.

Around The World In 14 Films
Around The World In 14 Films

Vom freien Land nur träumen können die Figuren aus DOGTOOTH. Der griechische Beitrag entwirft die groteske Versuchsanordnung einer Mittelstandsfamilie, deren erwachsene Kinder noch nie die Welt jenseits des Gartenzauns gesehen haben. Einen Grund für das Kaspar-Hauser-Experiment bleibt der Film schuldig, er kapriziert sich vielmehr auf episodische, zwischen Schock und Kalauer pendelnde Reiz-Reaktions-Szenarien, die dem hermetischen Erziehungsmodell entspringen: Böse Begriffe wie "Telefon" und "Pussy" werden in scientologischer Wortklärungsmanier zu "Salzstreuer" und "Deckenlampe" umgedeutet. Gewalt entsteht ex negativo, indem die medizinisch geschulte Schwester die Wunden, die sie heilen möchte, dem Bruder erst zufügt. Und was ein eingeschmuggeltes ROCKY-Video in diesem Haushalt an Liberationsenergie freisetzt, kann man sich gar nicht vorstellen. Zwar stumpft DOGTOOTH an seiner Brainstorming-Dramaturgie und der beengten Kadrage mit der Zeit ab; die Darsteller aber, insbesondere die ältere Schwester, deren keimende Sturm-und-Drang-Phase in einem furiosen Elektra-Tanz mündet, wissen zu begeistern.

Ebenfalls eingesperrt, aber aus eigenem Willen, ist Beto, der Protagonist von PARQUE VIA. Als Butler einer Herrin, die das Haus längst verlassen hat, fristet er ein Leben in Einsamkeit und Monotonie. Einmal die Woche besucht ihn eine burschikose Nutte, die fragt, ob er ihre Beine schön findet. Die Beine, antwortet Beto, sind das erste, was ich beiseite schiebe. Auf der Straße fällt er in Ohnmacht, was nur so lange ein agoraphobes Klischee ist, bis man bei der einzigen Kranfahrt des Films selber in Schwindel gerät. Als die wächserne Lady ihm, schwer gerührt von aristokratischen Schuldgefühlen, eröffnet, dass das Haus verkauft werden muss, sehen wir in Großaufnahme Betos knetende Hand: wie eine Marionette, die sich an losgelassene Fäden klammert. Die stoische Wiederholung seiner Alltagsroutinen rückt den kleinen Film in Verwandtschaft zu Chantal Akermans JEANNE DIELMAN, dessen feministische Stoßrichtung er durch einen ähnlich gelagerten Finaltwist zur Knechtschaftsrevolte umlenkt.

Around The World In 14 Films
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In einer solchen Auslese nicht fehlen darf natürlich der jüngste Bohei aus Cannes: KINATAY des auf Festivals eigentlich wohlgelittenen philippinischen Auteurs Brillante Mendoza erntete an der Croisette neben dem Regiepreis vor allem jede Menge Kritikerhass. Von viehischer Gewalt, misogyner Scheiße und zugezogenen Nervenschäden war allenthalben zu lesen, nicht aber von der schier sprachlos machenden Handkameravirtuosität, mit der Mendoza hier den Moloch Manila absteckt. In Echtzeit schildert KINATAY (zu Deutsch: "Abschlachtung") eine Nacht im Leben des frisch verheirateten Polizeischülers Peping, der einer befreundeten Gang beim Entsorgen einer zuvor brutal geschändeten Hure assistiert. Als elektrische Vibrationen aus Licht und Lärm inszeniert Mendoza die halbstündige Autofahrt vom Neonviertel in die Outskirts, wo die Leinwand in ein ewiges, kaum mehr differenzierbares Halbdunkel sinkt. Die zentnerschwere christliche Symbolik, die bewusst plump aufs Publikum niederknallt, ist nur noch Leerformel einer irreparabel kaputten Moral, die, weil sie keine Realität jenseits des Ideellen mehr besitzt, als billiger Slogan auf Polizei-T-Shirts reaffirmiert werden muss. Folglich kennt der Film keine Spannung, kein Tempo, keine Entwicklung: Es gibt keine Unschuld mehr zu retten oder zu verlieren, das Ende ist unausweichlich.

Überhaupt kein Ende finden will dagegen HISTORIAS EXTRAORDINARIAS. Auf den ersten Blick verletzt Mariano Llinás' größenwahnsinniges Selfmade-Epos so ziemlich alle Regeln, die Kino überhaupt ausmachen: Gedreht auf potthässlichem Homevideo-Material zu 3 Pesos das Stück, ohne professionelle Darsteller und Sets, angetrieben von einem pausenlosen Voice-Over – der unfilmischsten aller Erzählweisen –, und vor allem bar jeder narrativen Ökonomie, entfaltet Llinás ein über vierstündiges Plotkonvolut von borgesianischen Ausmaßen. In drei Haupt- und diversen Nebensträngen erzählt der Film von unscheinbaren Melancholikern, die sich wahnhaft in fremden Identitäten und Schnitzeljagden verlieren. Wer jemals den paranoiden Mysterienspielen Jacques Rivettes erlegen ist, kennt die magnetische Kraft solcher Erzähllabyrinthe. Das wahrlich Extraordinäre des Films liegt jedoch im Verhältnis seiner Bilder zur absolut dominanten Sprecherstimme: Die im Grunde banalen Aufnahmen von Gesichtern, Räumen, Landschaften könnten ebensogut völlig andere Geschichten illustrieren; sie sind Treibgut, das im Mahlstrom der Worte untergeht. Wie HISTORIAS EXTRAORDINARIAS es dennoch schafft, vom längsten Kuleschow-Experiment der Filmgeschichte zum Kunstwerk sui generis zu werden, macht ihn zum Höhepunkt des Festivals.

Around The World In 14 Films
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Töne ins Bild zu setzen: dieser Aufgabe stellt sich Romuald Karmakar mit VILLALOBOS. Im dritten Teil seiner Club-Trilogie – nach 196 BPM und BETWEEN THE DEVIL AND THE WIDE BLUE SEA – porträtiert er den Berliner DJ Ricardo Villalobos, beim Auflegen, Remixen, Probehören und meistenteils sympathischen Unsinn Labern. Im Technikkabuff, wo kabelversalatete Modulmaschinen ein groovendes Eigenleben führen, erzählt er von höherwertigen Aufnahmetechniken zu Opas Zeiten und Partydrogen als Sexersatz. Mit gewohnter Clip-Ästhetik bricht Karmakar in den Clubszenen vollkommen: In langen, schweifenden Einzeltakes zwischen Box und Ballsaal akzentuiert er weniger die pushende Kinetik der Musik, derer die festsitzenden Ärsche im Kinosessel ohnehin nicht teilhaftig werden können, sondern das Punktum, die Statik des einzelnen Beats, den Umschlagsmoment einer Basslinie in die andere. Ein Ansatz, der auch über zwei Stunden erstaunlich gut trägt. Die wundersame Publikumsvermehrung um dutzende sorgsam-sorglos gestriegelte Hipster tat dem insgesamt eher mäßig besuchten Festival an diesem Abend ebenfalls ganz gut.
(Nur kurz etwas zur zweiten Doku des Programms: LIVING IN EMERGENCY begleitet vier "Ärzte ohne Grenzen" auf Missionen in Liberia, Kongo und Malawi. Formal wenig aufsehenerregend, lebt der gelegentlich allzu zeigfreudige Film ganz von der unmittelbaren Wucht seines Materials und den beträchtlichen Egos seiner zwischen Powertrip und Burnout schwankenden Protagonisten.)

Letzte Anlegestelle der Weltkino-Kreuzfahrt ist ein Land, dessen kinematischer Aufbruch in jüngeren Jahren besonders deutlich zu spüren war: Rumänien. Assoziiert vor allem mit dem realistischen Stil von Regisseuren wie Cristian Mungiu und Cristi Puiu, wählt Adrian Sitarus HOOKED einen experimentelleren Ansatz. Der Film operiert mit einer streng subjektiven Kamera, deren Clou es ist, nicht auf einen einzelnen Protagonisten beschränkt zu sein: Jede auftretende Figur kann den Blickwinkel augenblicklich an sich reißen, nur, um ihn in rascher Schnittfolge an jemand anderen zu verlieren. In Dialogszenen entsteht so ein einigermaßen traditionelles Schuss-Gegenschuss-Gefühl (mit der Kamera genau auf der Blickachse), das jedoch durch die automatische Zuschaueridentifikation mit der jeweiligen Perspektive einen irritierenden Bruch erfährt: Kaum ist man im Schuss mit der einen Figur "verschmolzen", wird man im Gegenschuss von eben jener Figur durch die vierte Wand angestarrt. Der verkehrte Spiegeleffekt – dass also auf dem Standpunkt, den man selber gerade noch eingenommen hat, plötzlich ein anderer steht – erzeugt unmittelbares Unbehagen. Sitarus meisterlich gefügtes Kaleidoskop und die starken Darsteller trösten darüber hinweg, dass die gallige Geschichte um ein Pärchen, das bei einem Picknickausflug in die sexuellen Manipulationsnetze einer jungen Prostituierten gerät, über zwischenmenschliche Krisendynamik nichts zu erzählen hat, was nicht schon Schnitzler oder Albee schärfer formuliert hätten.

Around The World In 14 Films
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Es gäbe auf so einem Festival natürlich noch manches vom Drumrum zu erzählen. Die interessanten Suppen und kräftigen Brezn. Die immergleiche Sponsoren-Werberolle, die mit jeder Vorführung ein bisschen mehr zur Folter wurde. Das Kurzfilmprogramm, auch dies in den meisten Fällen eher Leid als Genuss und Anlass für mannigfaltige Filmförderungsverfluchungen. Der nie versiegende Enthusiasmus von Festivalleiter Bernhard Karl. Die Filmeinführungen durch deutsche Regisseure und Journalisten, irgendwo zwischen souveräner Cinephilie und Kompetenzdesaster (ohne Namen nennen zu wollen: vor KINATAY wäre ich am liebsten gestorben). Die beizeiten sehr spaßigen Q&As, insbesondere mit Albert Serra, der BIRDSONG mit angenehmer Arroganz zum besten spanischen Film der letzten 30 Jahre ausrief. Und der treffliche Name des Festivalkinos, Babylon, wo sich einst die Sprachen verwirrten und einem auch jetzt, neun Tage und eine Erdumrundung später, die Ohren klingeln konnten. Zum letzten Mal, jedenfalls für eine Weile, lief man dann zum Alex runter, wo einen die Bahnen in alle Himmelsrichtungen transportierten; und der Fernsehturm mit seiner Kugel sah plötzlich so aus, als trüge er die ganze Welt am Spieß.




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