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FILM.
Ein qualitativ eher schwaches Kinojahr ist zu Ende gegangen. Manche mögen deshalb immer noch Probleme mit der Bilanz haben: Welche zehn Filme dürfen als die besten des Jahres gelten? Wer unter dieser Fragestellung eingesteht, ELLE verpasst zu haben, riskiert heftige Schelte. Also empfiehlt es sich, zur Sicherheit auf DVD oder Bluray nachschauen, ob die Top Ten doch noch voll werden. ELLE erweist sich allerdings als sperriger Kandidat. Obwohl sich haarsträubende, groteske und bizarre Begebenheiten auf unterhltsame Weise zutragen, lässt sich kaum sagen, um was für eine Art von Film es sich eigentlich handelt.
Seine Charaktere und seine Konstruktion, sein Dialogwitz und seine audiovisuelle Textur spotten den simplen Einordnungsversuchen, die nicht zuletzt durch den Verleih in Umlauf sind. Um Vergewaltigung geht es schon, doch für ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem Täter, wie es in einer Inhaltsbeschreibung heißt, fehlt es - wohl mit Absicht - an Stringenz, und für ein Rachedrama an martialischem Ernst. Ohne Anspruch auf eine Idealdefinition sei an dieser Stelle der Vorschlag einer bitterbösen, schonungslos naturalistischen Sittenkomödie unterbreitet. Die mangelnde Lesbarkeit - oder umgekehrt gesagt: allzu dichte Chiffrierung - kann einer günstigen Beurteilung durchaus abträglich sein, sogar wenn sie der Darstellung des Grundthemas ästhetisch entspricht.
Das fängt schon bei der Ouvertüre an. Eine Katze beobachtet einen Mann und eine Frau beim Sex: Diese Beschreibung einer Kritikerkollegin ist weder ganz falsch noch ganz richtig, aber sozusagen schrecklich naheliegend. Tatsächlich sind zunächst vor schwarzem Hintergrund, dann mit einer sparsam ausgeleuchteten Katze zu Barockmusik Geräusche zerbrechender Gläser und eines Kampfes zu hören, in dem sich anscheinend eine Frau zu wehren versucht und Schläge, vielleicht Ohrfeigen, niedergehen. Anschließend ist der Parkettboden eines stilvoll eingerichteten Wohnzimmers oder Salons zu sehen. Auf einer reglosen Frau bewegt sich lustvoll und stöhnend eine schwarz gekleidete, maskierte männliche Gestalt. Nachdem der Mann verstummt ist, liegt er noch kurz auf der Frau, erhebt sich auf die Knie, nestelt an seinem Slip, schnallt sich im Aufstehen die Hose zu und verschwindet durch die offen stehende Terrassentür in den Garten.
Die Frau bleibt mit entblößter Brust liegen. Sehr langsam nimmt sie eine sitzende Position ein. Sie starrt vor sich hin, wirkt benommen. Dann kehrt sie zerplitterte Gläser auf und schließt die Terrassentür. Was ist da passiert? War das ein derbes Spiel - oder Gewalt? Welche Variante von Sex zwischen Mann und Frau ist zu sehen gewesen? Der Zuschauer ist verwirrt. Und ihm dämmert, seine Unfähigkeit, das Gesehene zu begreifen, könnte sein exaktes Gegenstück in der Unfähigkeit der Figur haben, das ihr Widerfahrene zu erfassen. Das ist ganz hochklassiges Kino. Doch damit nicht genug.
Der niederländische Regisseur Paul Verhoeven hat schon in den ersten Minuten weit, weit mehr gewagt als mit seinen berühmten amerikanischen Blockbustern BASIC INSTINCT oder TOTAL RECALL. Und er ist zu noch größeren Risiken bereit. Stellen jene Filme das Moralische bzw. das Wirkliche in Frage, so betreibt ELLE deren rettungslose Verabgründigung. Was Michèle (Isabelle Huppert) in ihrem eigenen Haus erlebt hat, erweist sich im Verlauf des Films als extreme Zuspitzung des von obskuren Begierden und niederen Beweggründen diktierten Daseins, das sie selbst und die stärkeren der Menschen um sie herum führen. Ein Erzähleinsatz um doppelten Gewinn oder absoluten Verlust ist das, weil Verhoeven buchstäblich damit spielt, die Grenzen zwischen Gut und Böse zu verwischen und das schockhafte Ereignis des Beginns zu relativieren.
Zunächst sorgt noch für Beklemmung, dass Michèle weder weiterleben kann wie bisher, noch es etwas zu bewirken scheint, über den Überfall zu sprechen. Die Wunde an ihrer Schläfe erklärt sie gegenüber ihrem erwachsenen Sohn mit einem Fahrradunfall. Doch Vincent (Jonas Bloquet) macht misstrauisch, dass das Zweirad keine Schramme aufweist. Bei einem abendlichen Diner mit Ex-Mann Richard (Charles Berling), ihrer Freundin und Mitarbeiterin Anna (Anne Consigny) sowie dessen Mann Robert (Christian Berkel), mit dem sie ebenfalls beruflich zu tun hat, offenbart sie, dass sie vergewaltigt worden ist. Die anderen wirken geschockt, murmeln Anteilnahme, fragen, warum sie nicht die Polizei informiert hat, worauf Michèle entgegnet, sie habe gar nicht gewusst, was sie zu tun habe. Ihr entgeht nicht, dass die anderen vor allem betreten sind, dass jemandem von ihnen soetwas zugestoßen ist. Sehr deutlich artikuliert Michèle ihre Enttäuschung.
Dabei ist diese Michèle glücklicherweise kein Opfer, wie es etwa die Brüder Dardenne bevorzugen. Sie ist keineswegs ohnmächtig ihrer Umgebung ausgeliefert. Als Boss eines Games-Unternehmens staucht sie ihre Mitarbeiter nach Belieben zusammen. Dass der Vergewaltiger unter ihnen sein könnte, veranlasst sie zu groß angelegter Bespitzelung. Ihrer alten Mutter droht sie mit dem Tode, sollte sie sich mit ihrem jungen (käuflichen) Lover vermählen. Im Buffethäppchen für die junge Freundin des Ex versteckt sie einen Zahnstocher. Ohne Skrupel gegenüber ihrer Freundin Anna hat sie seit Monaten eine Affäre mit deren Mann laufen. Allerdings fängt sie gerade an, ihren Nachbarn Patrick (Laurent Lafitte) verführen zu wollen. Während er den Anweisungen seiner frömmelnden Frau Rebecca (Virginie Efira) folgt und zu Weihnachten fast lebensgroße Figuren der heiligen Familie fest an seinen Körper gepresst von einem Lieferwagen in den Garten trägt, beobachtet Michèle ihn durch einen Feldstecher und masturbiert dabei. Mit schwachen Menschen hat sie Mitleid, sei es nun ihr ehemaliger Mann, der gescheiterte Schriftsteller, oder ihr Einfaltspinsel von Sohn, der sich von seiner Freundin das Kind von einem Kumpel unterschieben lässt. Isabelle Huppert ist für ihre Rolle genau die Richtige: Sie hat die dafür nötigen doppelten Register des Spiels im Spiel, das Einschalten eines falschen Lächelns und seine Eclipse, sobald es nicht mehr gebraucht wird, echtes und geheucheltes Interesse, Arroganz und Sehnsucht. Ihr Charakter ist wesentlich monadischer und materialistischer angelegt als die Hauptfigur des zugrunde liegenden Romans "Oh…" von Philippe Djian, die viel mehr die Verbindung mit der Welt sucht, sei es in bedeutungsvollen Zeichen in der Natur, sei es in der zufälligen Berührung.
Zwar ist ihre Michèle einerseits keine Sympathieträgerin. Aber andererseits ruft sie weder Abscheu aufgrund ihrer Niedertrachrt noch schäbige Schadenfreude aufgrund ihrer Vergewaltigung hervor. Davor bewahrt nicht nur der Umstand, dass sie die Tochter eines berüchtigten Serienkillers und gezwungen ist, sich immer wieder mit dieser Bürde auseinanderzusetzen. Sondern vor allem die allmähliche, traumatisch in die Gegenwart einbrechende Enthüllung der Einzelheiten des erniedrigenden Dramas der Vergewaltigung. Wenn sich Michèle ausmalt, wie sie den Übeltäter tot geschlagen haben könnte statt sich ihm unterwerfen zu müssen, liegt darin ein mitreißendes Aufbegehren der Phantasie gegen eine entwürdigende Realität.
Doch nicht einmal dabei wollen es Verhoeven und sein Autor David Birke belassen. Sie schicken Michèle noch auf die Suche nach einem perversen Genießen, das die letzten Schranken der Scham hinter sich lässt, als sie die Identität des Vergewaltigers bereits kennt. Womit sich wieder die Frage stellt, was ELLE eigentlich ist: Genussüchtiger Flirt mit der Amoralität oder deren schonungslose Zeitdiagnose?
DVD.
Ein Audiokommentar ist eigentlich unentbehrlich, um die verschiedenen Lesarten aufzublättern, die ELLE anbietet. Ideal wären dafür Verhoeven und der Autor der Romanvorlage, Philippe Djian. Unglücklicherweise hat der Verleih bloß den Trailer und eine Trailershow angebackt. Bei der Wiedergabe der Farben wäre mehr Sorgfalt angebracht gewesen. Die Nuancen des Dunklen und der Dunkelheit sind nicht so ausgeschöpft, dass sie den bitterbösen Aufeinandertreffen der Figuren gerecht würden.
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