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KAPITELWAHL

DER SCHWEINESTALL (Italien/Frankreich 1969)

von David Leuenberger

Original Titel. PORCILE
Laufzeit in Minuten. 98

Regie. PIER PAOLO PASOLINI
Drehbuch. PIER PAOLO PASOLINI
Musik. BENEDETTO GHIGLIA
Kamera. TONINO DELLI COLLI . ARMANDO NANNUZZI . GIUSEPPE RUZZOLINI
Schnitt. NINO BARAGLI
Darsteller. PIERRE CLÉMENTI . JEAN-PIERRE LÉAUD . ALBERTO LIONELLO . UGO TOGNAZZI u.a.

Review Datum. 2016-12-11
Erscheinungsdatum. 2014-09-26
Vertrieb. FILMGALERIE 451

Bildformat. 1.85:1 (anamorph)
Tonformat. ITALIENISCH (DD 2.0)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
"Ich habe meinen Vater getötet, Menschenfleisch gegessen und ich zittere vor Freude!" Kurz vor seinem Tod rezitiert der Protagonist von DER SCHWEINESTALL diesen Satz, und wiederholt ihn immer wieder, bis er die Textur eines Gedichts oder gar eines Gebets bekommt. Auch der eine oder andere Zuschauer dürfte in diesem Moment erzittern ob des Schauers, der ihm über den Rücken läuft.

DER SCHWEINESTALL verwebt zwei Geschichten mit (fast) komplett verschiedenen Figuren zu unterschiedlichen Zeiten, inszeniert in disparater Art und Weise. In der ersten Episode irrt ein junger Mann (Pierre Clémenti) durch eine gespenstische karge Landschaft aus Steingeröll. In der Vergangenheit? In einer postapokalyptischen Gegenwart? In der Zukunft? Schwer zu sagen! Der hungernde Mann trifft einen Soldaten, tötet ihn und isst ihn. Die Zeit vergeht, und mehr und mehr Männer schließen sich dem Kannibalen an, um Passanten auszurauben, zu töten und zu verspeisen. Dies ruft dann auch bald die Ordnungsmächte der naheliegenden Stadt auf den Plan.
In der zweiten Episode irrt der junge Julian Klotz (Jean-Pierre Léaud) durch das prunkvolle Schloss seines Vaters (Alberto Lionello), einem Altnazi, der während des Wirtschaftswunders zu einem der erfolgreichsten Unternehmer der frühen Bundesrepublik geworden ist. Der unentschiedene Julian unterhält sich mit seiner Freundin Ida (Anne Wiazemsky) über revolutionäre Politik, verfällt zwischendurch in ein Wachkoma und fühlt sich vom örtlichen Schweinestall stark angezogen. Währenddessen spinnt sein Vater mit seinen Altnazikollegen Hans Günther (Marco Ferreri) und Herdhitze (Ugo Tognazzi) Intrigen.

DER SCHWEINESTALL galt lange Zeit als der "verschollene Pasolini-Film", als "missing link" zwischen dem frühen und späten Werk des bis heute umstrittenen italienischen Regisseurs. Das gilt besonders für Deutschland; aber auch außerhalb wurde dieser Film spärlicher rezipiert als andere Produktionen des Italieners. Man kann, wenn man will, diese mysteriöse Aura auch im Film selbst sehen - oder ihn aber "gegen den Strich" als den vielleicht klarsten Film Pasolinis sehen.

Fast schon tabellarisch könnte man die "Kannibalen-Episode" und die "68er-Episode" (nennen wir sie im folgenden der Einfachheit halber so) miteinander vergleichen und gegenüberstellen. Erstere ist purer Film, distanziert und nüchtern inszeniert, ein Bilderreigen (fast) ohne Dialoge, in der die Darsteller minimalistisch agieren. Zweitere ist purer Diskurs, in langen Plansequenzen und ausgetüftelten Dekors manieriert in Szene gesetzt, ein Dialogmarathon mit expressiven, maximalistisch agierenden Darstellern. Wie von verschiedenen Regisseuren in unterschiedlichen Universen wirken die beiden Episoden, und werden scheinbar nur durch die verschränkende Montage zusammengehalten.

Doch so unterschiedlich die zwei Geschichten von DER SCHWEINESTALL auch erscheinen, so untrennbar gehören sie zusammen - formal wie inhaltlich. Sie funktionieren erst dadurch richtig, dass sie ineinander verschlungen sind, sich gegenseitig ihren Erzählfluss immer wieder unterbrechen. Die "Kannibalen-Episode" wirkt sicherlich ursprünglicher und scheint eher dazu prädestiniert, einen unabhängigen Film zu bilden. Als solcher würde sie wahrscheinlich aber irgendwann ihren mysteriösen, fast mystischen Zauber verlieren. Von der modernen "68er-Episode" ständig unterbrochen wirkt sie mit jedem "Neubeginn" wieder frisch, überraschend, irritierend, verstörend. Die "68er-Episode" hingegen würde zusammenhängend wohl die Wirkung eines mit Gewalt eingeführten Pädagogik-Mastschlauchs entwickeln. Erst durch die stetige Unterbrechung der "Kannibalen-Episode" entwickelt die antibourgeoise und antifaschistische Satire, die zu Beginn wie eine Karikatur ihrer selbst aussieht, eine reflektierte Ernsthaftigkeit und schließlich eine ganz eigene, perverse Faszination.

Mit zunehmender Laufzeit erschließen sich auch nach und nach inhaltliche Zusammenhänge. Julian etwa redet ständig von Rebellion, der Kannibale begeht sie. Die "Kannibalen-Episode" macht Gewalt recht explizit auf einer sehr unmittelbaren und körperlichen Ebene erfahrbar. In der "68er-Episode" ist sie jedoch kaum weniger abwesend, zumal diese nicht zuletzt auch vom Holocaust handelt: sie tritt jedoch nicht explizit auf den Plan, sondern lediglich dialogisch und hochzivilisatorisch "sublimiert" - und ist wohl eben deswegen noch unerträglicher, weil beiläufiger. Im letzten Drittel wird dann auch in beiden Geschichten eine Beobachterfigur eingeführt, jeweils gespielt von Pasolini-Stammdarsteller Ninetto Davoli. Spätestens hier (oder auch schon früher, als Julian kurzzeitig in ein Wachkoma fällt) kann man sich fragen, ob die "Kannibalen-Episode" ein Traum Julians ist, der darin alles macht, wozu er sich in der Wirklichkeit der "68er-Episode" nicht traut: gegen seinen Vater und dann gegen die komplette Gesellschaft zu rebellieren.

DER SCHWEINESTALL ist zweifelsohne ein sehr intellektueller Film, dabei ist er aber im Gesamtdesign und im Detail auch sehr sinnlich. Besonders die fast dialogfreie "Kannibalen-Episode", gedreht auf dem Ätna, hat es in sich. Die scheinbar endlose, desolate Gerölllandschaft, durch die sich der zornige junge Mann bewegt, fängt Pasolini fast irreal und geisterhaft ein, fügt ihr eine mystische Note bei. Dadurch entsteht das, was man sich ungefähr unter einem Pasolini-Science-Fiction-Film vorstellen könnte. Besonders der "Sündenfall" des jungen Mannes, nämlich der Mord an dem Soldaten, wird in unvergesslichen Bildern eingefangen: ein Kampf auf Leben und Tod, der unter dem Zeichen einer latenten erotischen Spannung steht und der in einer kurzen Bilderfolge Gefecht, Freundschaft, Begehren, Selbstunterwerfung, Rache und Erbarmungslosigkeit aufeinander folgen lässt. Nun, vielleicht hätte sich Pasolini zusätzlich zu DER SCHWEINESTALL auch noch an einer Langfassung der "Kannibalen-Episode" versuchen sollen...

DVD.
Bild- und Tonqualität der Films auf dieser Edition sind spitze, wenn auch im positiven Sinne nicht makellos (die Körperlichkeit des Filmmaterials ist noch zu spüren). Die Scheibe selbst präsentiert sich so spartanisch wie eine Gerölllandschaft am Ätna, mit nur einigen Trailern anderer Filme des Italieners, die Filmgalerie 451 herausgebracht hat. Sehr schön ist allerdings das 24-seitige Booklet mit Georg Seßlens Essay "Versuch über Pasolinis lange unsichtbaren Film", in dem der Filmkritiker kenntnisreich Deutungsansätze und Querverbindungen zu anderen Pasolini-Filmen (u. a. SALÒ) präsentiert.








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