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KAPITELWAHL

DEEP IN THE WOODS - VERSCHLEPPT UND GESCHÄNDET (Frankreich/Deutschland 2010)

von Björn Lahrmann

Original Titel. AU FOND DES BOIS
Laufzeit in Minuten. 102

Regie. BENOÎT JACQUOT
Drehbuch. BENOÎT JACQUOT . JULIEN BOIVENT
Musik. BRUNO COULAIS
Kamera. JULIEN HIRSCH
Schnitt. LUC BARNIER
Darsteller. ISILD LE BESCO . NAHUEL PÉREZ BISCAYART . JÉRÔME KIRCHER . BERNARD ROUQUETTE u.a.

Review Datum. 2012-08-19
Erscheinungsdatum. 2011-11-18
Vertrieb. ALAMODE-FILM/ALIVE

Bildformat. 1.85:1 (anamorph)
Tonformat. DEUTSCH (DD 5.1) . FRANZÖSISCH (DD 5.1)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
PAS DOUCE, "nicht sanft", hieß der Film, in dem mir Isild Le Besco zum ersten Mal begegnet ist. Ein Titel, der die Frau, ihr Gesicht vor allem, perfekt umschreibt: Was prähistorisch Brutales haben ihre Züge, Augenschlitze, die pantherhaft auf Beute lauern, Hauer, die die fleischigen Lippen nie ganz verschließen, Kiefer, die alles (vorzugsweise Männliches) zermalmen könnten. Ich fand das auf Anhieb unheilvoll faszinierend und, bei meiner Seel, irgendwie auch fatal heiß, was soll man machen. Immerhin eine Schwäche, die Benoît Jacquot offenbar teilt: Sechs Mal hat er Le Besco schon besetzt, was auch bedeutet, dass etwas an ihrer unmädchenhaften Härte mit seinen Filmen ganz fundamental im Einklang ist.

Immer wieder erzählt Jacquot von Frauen, die ihr bisheriges Leben ab- und auf- und ausbrechen, sei es Léa Seydoux als revolutionstrunkene Marie-Antoinette-Zofe im diesjährigen Berlinale-Eröffner LEB WOHL, MEINE KÖNIGIN, die stoisch eheflüchtige Isabelle Huppert in VILLA AMALIA oder Le Besco selbst als mitgerissene Bürgerstochter im ungeschliffenen Bonnie & Clyde-Verschnitt À TOUT DE SUITE. Dem ähnelt wiederum, gut 150 Jahre in die Vergangenheit verlegt, die Ausgangskonfiguration von DEEP IN THE WOODS - VERSCHLEPPT UND GESCHÄNDET: Ein betuchtes Mädchen (Le Besco) lässt sich von einem Landstreicher (Nahuel Pérez Biscayart) in den Bann schlagen und zieht mit ihm, Unsitte treibend, durch die Lande. Nicht für die Unsitte interessiert sich Jacquot allerdings, sondern für den Bann, das Wie und Warum des Bannens und Gebanntseins.

Thimotée, so der Name des Landstreichers, erblickt das Mädchen, Joséphine, auf den Treppen einer Kirche und stalkt sie, Unchristliches im Sinn, bis nach Haus. Ihrem Vater, dem örtlichen Armenarzt, stellt er sich als taubstummer Seher vor und wird prompt, aus Amüsierlust eher denn Barmherzigkeit, an die Abendtafel geladen. Perfekt auf den damaligen Populärgeschmack abgestimmt ist Thimotées Programm, das man von kryptischen Weissagungen zu billigen Magnetisiertricks so ungefähr auch in Schillers "Geisterseher" wiederfindet - ein abkanzelnder Wink in Richtung klassischer Dichtung, die den animalischen Magnetismus zwischen Joséphine und Thimotée wahrscheinlich mit einer Art Liebeszauber wegerklärt hätte. Jacquot dagegen macht ihren restlos unromantischen coup de foudre, der in hastiger Vergewaltigung auf dem Küchenfußboden vollzogen wird, an völlig opaken Körperzeichen fest: das Muskelspiel in Joséphines weißem Nacken; Thimotées Daumen und Zeigefinger, die, wie unsichtbare Salzprisen verstreuend, aneinanderreiben.

Per Close-up - traditionell ein Auskunftsmedium, das dem, was es hervorhebt, privilegierte Bedeutung beimisst - werden diese rätselhaften Gesten markiert, ohne aber ihre hypnotischen Kräfte im Mindesten zu erhellen. Obwohl Thimotée Joséphine in keiner Weise nötigt und sie ihn sichtlich zutiefst verachtet, brechen die beiden, willfährig-freiwillig-willenlos, gemeinsam auf in die Wildnis unter einem Zwang, den man nicht begreift. Attraktion wird Dekonstruktion, richtet sich gegen simples Verständnis, gegen Erzählbarkeit, gegen Ästhetisierbarkeit nicht zuletzt: Neben nationalmuseumstauglichen Landschaftspanoramen nimmt sich der hasserfüllte Waldbodensex wie reiner, unattraktiver Punk aus. Zugleich pumpt die schamlose Körperlichkeit, mit der der dürre, rattenhafte Biscayart und die zaftige Le Besco aufeinanderstürzen, erst Leben in einen allzu trockenen, zerebralen Film, dessen gestelzte Dialoge ausgerechnet die Literatur evozieren, die zu überschreiben er antritt.

Worauf Jacquot offenkundig hinauswill, ist ein radikaler Bruch zwischen roher, elementarer Geilheit und ihrer systemischen Vereinnahmung in Liebe, Ehe, Religion etc. - ein nobler Akt der Kategorienbefreiung, der allerdings, wie bei Dekonstruktivisten üblich, bald selbst nervtötend kategorische Insistenz gewinnt. Der historisch verbriefte Gerichtsprozess, auf dem DEEP IN THE WOODS - VERSCHLEPPT UND GESCHÄNDET lose basiert, expliziert in der zweiten Filmhälfte noch einmal zäh und unnötig den zentralen Konflikt: Weil der Staat es sich nicht leisten kann, dass eine seiner braven Töchter - Joséphine trägt erst weiß, dann rot, dann blau, die Farben der Trikolore - so ohne Weiteres Stand und Sitte verrät, müssen Thimotées Magnetiseurkräfte zähneknirschend anerkannt werden, um das rettende Urteil zu fällen. Das Irrationale hält der Gesellschaftsvertrag dann doch besser aus als wilden Sex: Eine Pointe, über die das hartgesottene Arthousepublikum, an das sich dieser sperrige, freudlose Film richtet, bestimmt gerne dreckig lacht.

DVD.
Um den Elefanten im Raum anzusprechen: "Verschleppt und geschändet"! Wer bei Alamode auf die Idee gekommen ist, einen stocknüchternen französischen Kunstfilm als Rape-Revenge-Heuler zu vermarkten, hat entweder nicht mehr alle Tassen im Schrank oder eine Medaille verdient. Davon ab: DVD technisch ansprechend, Bonus-Feature - ein langes, detailliertes, um Eigenwerbung gänzlich unbemühtes Interview mit Jacquot - aufschlussreich.








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