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KAPITELWAHL

JEAN-PIERRE MELVILLE - ARTHAUS CLOSE UP (Frankreich/Italien 1962/1969/1970)

von David Leuenberger

Original Titel. LE DOULOS/L'ARMÉE DES OMBRES/LE CERCLE ROUGE
Laufzeit in Minuten. 104/138/134

Regie. JEAN-PIERRE MELVILLE
Drehbuch. JEAN-PIERRE MELVILLE
Musik. PAUL MISRAKI . ERIC DE MARSAN
Kamera. NICOLAS HAYER . PIERRE LHOMME . HENRI DECAE
Schnitt. MONIQUE BONNOT . FRANÇOISE BONNOT . MARIE-SOPHIE DUBUS
Darsteller. JEAN-PAUL BELMONDO . LINO VENTURA . ALAIN DELON . ANDRÉ BOURVIL u.a.

Review Datum. 2012-04-24
Erscheinungsdatum. 2012-03-01
Vertrieb. STUDIO CANAL

Bildformat. 1.66:1 . 1.77:1
Tonformat. DEUTSCH (DD 2.0) . FRANZÖSISCH (DD 2.0)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
"Unsterblich werden... und dann sterben!" So antwortete Monsieur Parvulesco alias Jean-Pierre Melville in A BOUT DE SOUFFLE auf die Frage, was die größte Ambition seines Lebens sei. Als Melville im Jahre 1973 verhältnismäßig früh verstarb, erfüllte sich die Prophezeiung gewissermaßen umgekehrt. Denn Jahrzehnte nach seinem Tod sind John Woo, Jim Jarmusch, Quentin Tarantino und Aki Kaurismäki nur einige der Regisseure, die Melvilles Filme als maßgeblichen Einfluss nennen. Amerikanische Filme (fünf Stück pro Tag sollen Anfang der 1930er Jahre seine Mindest-Tagesdosis gewesen sein), aber auch der Zweite Weltkrieg mit der deutschen Besatzung Frankreichs und der Etablierung eines Kollaborationsregimes waren die beiden großen Faktoren, die wiederum Melville lebenslang prägten.
Er galt als Außenseiter, als "Amerikaner in Paris", der von der französischen Filmindustrie weitestgehend isoliert seine trostlosen Gangsterfilme mit den immer wiederkehrenden gleichen Themen drehte: Geschichten von harten Männerwelten voller Gewalt, Einsamkeit und Verrat. Nur weil in Melville-Filmen wenig geredet wird, heisst es nicht, dass als Ausgleich viel gehandelt wird. Vielmehr konzentrieren sich seine Werke darauf, Alltag und Rituale männlicher und latent gewalttätiger Gemeinschaften minutiös und detailreich darzustellen. Ob Gangsterbanden, Résistance-Zellen oder gar Polizei-Abteilungen; sie sind in Melville-Filmen alle Parallelwelten außerhalb der Gesellschaft, die nur der eigenen Logik unterworfen sind. Kein Wunder, dass in dieser pessimistischen und fatalistischen Umgebung so viele Melville-Figuren den Tod finden.
Eine Inszenierung als "kühl" oder "unterkühlt" zu bezeichnen, klingt heutzutage etwas klischeehaft. Aber kaum eine Bezeichnung kann den Stil dieses französischen Kino-Außenseiters besser erfassen. Mehrere Anläufe könnten nötig sein, um nach anfänglicher Ratlosigkeit die ungeahnte Faszination Melvilles zu entdecken. Die Arthaus-Close-Up-Box bietet dafür einen exzellenten Einstieg.

DER TEUFEL MIT DER WEISSEN WESTE
Wenngleich das gesamte œuvre Melvilles maßgeblich vom amerikanischen film noir der 1940er Jahre beeinflußt ist, so ist LE DOULOS der definitive film noir à la française. Alle Elemente, manche etwas modifiziert, sind hier zu finden: die expressionistische Beleuchtung mit den teils schon fast irrsinnigen Licht-und-Schatten-Spielen, die ambivalenten Charaktere jenseits gängiger Gut-Böse-Linien, die zynische und nihilistische Weltsicht, die aus der Perspektive unzuverlässiger subjektiver Erzähler erzählte verwirrte und verwirrende Story, die femme fatale (deren ursprüngliche Ambivalenz hier jedoch eindeutig zugunsten misogyner Motive aufgegeben wird).
Das Resultat ist ein schöner Schwarzweißfilm mit exzellenten Darstellern und einer überaus eleganten Inszenierung (siehe die achtminütige Plansequenz in der Polizeiwache), die auch banalste Handlungen voll auskostet. Die kleinen Anspielungen auf den Algerienkrieg durch Titelblätter in Zeitungen und durch Graffitis unterstreichen lediglich, wie sehr außerhalb der Gesellschaft die Figuren agieren.

ARMEE IM SCHATTEN
Seinerzeit ein Kassen- und Kritikerflop, kann heute L'ARMÉE DES OMBRES als Melvilles magnum opus und zugleich persönlichstes Werk gelten. Er ist sowohl eine Hommage an die innere Résistance (der Melville zeitweilig angehörte) als auch eine radikale Zerstörung des damals gängigen gaullistischen Résistance-Mythos: nicht ganz Frankreich lehnte sich gegen die deutsche Besatzung auf, sondern nur ein kleiner konspirativer Kreis. Dieser bestand auch nicht aus übermenschlichen Heldengestalten, sondern aus sehr fehlbaren Menschen, die die Umstände zu brutaler und rücksichtsloser Gewalt zwang... auch bzw. vor allem gegen die eigenen Leute.
Vorgeworfen wurde Melville damals, dass sein Werk wie ein Gangsterfilm inszeniert sei. Die Ähnlichkeit ist tatsächlich nicht zu leugnen: hier und da wird eine gewalttätige, konspirative Parallelwelt inszeniert, die sich in ihren rituellen Gewalthandlungen selbst reproduziert und - Melville-typisch - zum Scheitern fast gezwungenermaßen verurteilt ist. Der Unterschied liegt darin, dass hier die Geschichte auf wahren Begebenheiten beruht (auf Joseph Kessels semidokumentarischen Roman) und die pessimistische Grundstimmung zu unbekannten Spitzen getrieben wird.
Diese machte und macht den Film so schwierig: keine romantischen Helden, keine spektakulären Kriegssequenzen, kein Happyend; emotionale Regungen werden im Keim erstickt; permanentes Understatement, bei dem Gefühle nur in den Augen der Figuren gelesen werden können, nicht in ihren Handlungen oder Worten. Mehr als alles andere ist hier die Darstellung Lino Venturas hervorzuheben, der den ehemaligen Ingenieur und Résistant Philippe Gerbier so intellektuell subtil wie physisch kraftvoll spielt und hier die größte Rolle seiner Karriere hinlegt.
In L'ARMÉE DES OMBRES scheint die Zeit angesichts der permanenten Todesgefahr völlig still zu stehen. Die Intensität und Spannung des Films speist daher sich vor allem aus der extremen Anspannung der verschworenen Gemeinschaft. Diese Menschen verstehen Résistance vor allem auch als Form des inneren moralischen Aufstands, der schließlich auch vor Selbstzerstörung nicht halt macht. Der ökonomisch inszenierte Schluss ist absolut zerstörend und bleibt zusammen mit der minimalistischen Musik sehr lange im Gedächtnis haften.
Der damalige Misserfolg in Frankreich beschränkte die internationale Vermarktung des Films. 2006 sorgte die Erstaufführung von L'ARMÉE DES OMBRES in den USA für eine wahre Sensation. Zu recht: handelt es sich doch um einen der großartigsten französischen Filme überhaupt!

VIER IM ROTEN KREIS
Nach dem französischsten all seiner Filme kehrte Melville zu seinen üblichen amerikanischen Formen zurück. In LE CERCLE ROUGE sind französische Charaktere fast vollständig verschwunden, zumindest ihren amerikanisch-deutsch-flämisch-korsischen Namen nach zu urteilen. Stattdessen dürfen sie - stellvertretend für Melville - ganz und gar ihrem Fetischismus für Trenchcoats, Fedoras, amerikanische Autos, Jazzmusik und Speakeasy-ähnliche Clubs frönen.
LE CERCLE ROUGE bietet den Höhepunkt dessen, was Melville sich unter einer Action-Szene vorstellt: ein nächtlicher Raubüberfall auf ein Juweliergeschäft, dargestellt als 25-minütige Sequenz ohne Dialog und nur sehr wenigen Geräuschen. Sie endet damit, dass der ermittelnde Polizeikommissar, der die Aufzeichnungen der Überwachungskamera sichtet, das ganze kommentiert mit: "Sie sind nicht sehr gesprächig." Solche Selbstreflexivität ist auch beim Überfall selbst garantiert: durch ein Schloss mit dem Kürzel JPM!
Ansonsten fasziniert LE CERCLE ROUGE dank der Melville-typische Spannung mit ihren manchmal exzessiv ausgedehnten Szenen, in denen einsame Charaktere durch den Wald oder über die Straße laufen, Auto fahren oder in einer Wohnung umhergehen. Die Polizei unterscheidet sich hier nicht wesentlich vom Gangster-Milieu. Nach anstrengenden Arbeitstagen und -nächten, in denen er Gangster mit oftmals illegalen Mitteln verfolgt, kehrt Kommissar Matthei erschöpft in seine Wohnung zurück, um sich an der Gesellschaft seiner drei (oder vier, oder fünf?) Katzen zu erfreuen. Ein großartiger Moment menschlicher Einsamkeit mit einem wunderbaren André Bourvil, der hier bereits todkrank eine seiner letzten Rollen spielte.
Der Film strotzt eigentlich nur so vor lauter Logikfehlern und Unwahrscheinlichkeiten. Man kann dies als Schlamperei abtun, oder aber als Melvilles konsequente Weigerung, der logischen Kohärenz zu Ungunsten der Atmosphäre Vorrang zu geben. Der Faszination dieses elegant inszenierten Films tut dies, spätestens nach der dritten oder vierten Sichtung, keinen Abbruch.

DVD.
Da die DVDs nur als Rezensionsexemplare vorlagen, kann der Verfasser nicht beurteilen, ob die Verpackung der Edition schön ist oder nicht, oder ob zum Beispiel so etwas wie ein nettes Booklet enthalten ist. Mit einem fetten blauen Zensurlogo ist jedenfalls zu rechnen. Die DVDs scheinen dieselben zu sein wie bei den jeweiligen Einzeleditionen desselben Verleihs. Die Box ist also vor allem für Cinephile interessant, die keinen oder vielleicht lediglich einen der drei Filme schon haben.
Bild und Ton sind bei allen drei Filmen relativ gut. Qualitätsschwankungen beim Bild fallen jedoch bei ARMEE IM SCHATTEN auf. Bonusse sind auf Trailer und Bildergalerien beschränkt, lediglich auf der DVD von VIER IM ROTEN KREIS doziert Filmwissenschaftlerin und Melville-Biographin Ginette Vincendeau knapp zwanzig Minuten lang verhältnismäßig informativ über Melville.








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