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KAPITELWAHL

DER NACKTE KUSS (USA 1964)

von Björn Lahrmann

Original Titel. THE NAKED KISS
Laufzeit in Minuten. 87

Regie. SAMUEL FULLER
Drehbuch. SAMUEL FULLER
Musik. PAUL DUNLAP
Kamera. STANLEY CORTEZ
Schnitt. JEROME THOMS
Darsteller. CONSTANCE TOWERS . ANTHONY EISLEY . MICHAEL DANTE . VIRGINIA GREY u.a.

Review Datum. 2011-12-25
Erscheinungsdatum. 2011-06-23
Vertrieb. ARTHAUS/KINOWELT HOME ENTERTAINMENT

Bildformat. 1.33:1
Tonformat. DEUTSCH (DD 2.0) . ENGLISCH (DD 2.0)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Face value: Etwas für bare Münze nehmen, blind glauben - wörtlich das, was ins Gesicht geschrieben steht. Gesichter sind nackt, verletzlich, sie sind das erste, was man küsst, und auch das erste, was man schlägt. DER NACKTE KUSS, ein Gesichterfilm, in dem nichts at face value zu haben ist, völlig unberechenbar in seiner Struktur, die sich allein aus der Unberechenbarkeit hinter den Fassaden seiner Figuren ergibt. Berühmt geworden ist die Eröffnungssequenz, ein Schlag mitten in die Zuschauerfresse: Eine Frau drischt furiengleich auf die Kamera ein; der Mann, der sich dahinter verbirgt, reißt ihr am Haar, reißt es ihr überraschend vom Kopf, mit nackter Glatze prügelt sie weiter, bis der Kerl am Boden liegt und nicht mehr kann. Nimmt sich die Handvoll Dollar, die ihr zustehen, stellt sich vor den Spiegel und rückt sich die Perücke zurecht. Vorspann. Mit einem Fuller'schen Lieblingswort gesprochen: The lady has balls.

Zwei Jahre später: Kelly, so der Name der Frau mit dem strapazierten Göttinnenantlitz (Constance Towers), hält Einzug in eine kleine Stadt. Der schmierige Police Captain erkennt sie sofort für das, was sie ist (obwohl sie sich als Champagnervertreterin ausgibt), wie sie auch ihn (obwohl er zivil trägt). In seinem Bett wird der Deal besiegelt, danach ein Ultimatum: In Candys Luxusbordell jenseits der Staatsgrenze könne sie gern absteigen, sein Hoheitsgebiet aber soll sauber bleiben. So, glaubt man, sind die Fronten denn gezogen, der Konflikt, den man aus zahllosen Western kennt - gerechter Outlaw gegen verdorbenes Gesetz -, kann beginnen. Tut er aber nicht: Von der falschen, gierigen Liebe, die wie Bonbons und Schampus durch den Magen geht, kämpft sich Kelly aus eigener Kraft zur fürsorglich-guten, gibt auf offener Straße wildfremden Babies die Flasche, macht im örtlichen Krankenhaus lahme Kinder gehen. La maman et la putain. Aus dem Western, der aus dem Noir kam, ist im Handumdrehen ein Weepie geworden.

Genres sind böse Schicksalsmächte, sie verdammen ihre Figuren, in festgelegten Rollen zu erstarren. Dagegen wehrt sich fulminant DER NACKTE KUSS, der mit jeder Entscheidung, die Kelly fällt, schockartig in neue Richtungen gestoßen wird. Ihre Geschichte kennt keine Plot Points, sie entwickelt sich, oder besser: wickelt sich ab mit der Unwucht einer ausgeworfenen Garnrolle (noch so ein Fullerwort: yarn). Dass ausgerechnet einer Frau hier die Ermächtigung zum komplexen Kinowesen gelingt, ist bezeichnend für eine Männerfilmografie, die fast ausschließlich von pathologischen Sturköpfen bevölkert wird. Genüsslich-gefährlich bringt Kellys Mündigwerdung das gesamte Erzählgefüge zum Wanken: Alles ist hier im Fluss und auf nichts mehr Verlass; face value als Beurteilungsgrundlage der Welt hat ausgedient, jeder kann plötzlich ein anderes Gesicht zeigen, im schlimmsten Fall sein wahres (insofern sind Genres mit ihren klar definierten heroes and villains dann doch sichere Häfen).

Für Kelly, die aller scheinbaren Abgebrühtheit zum Trotz naiv an die Oberfläche der Dinge und Menschen glaubt, ist das eine brutale Lektion. Als sie sich den reichsten Playboy der Stadt angelt, meint man schon an dessen leopardenhaften Wangenknochen das Ende der Affäre ablesen zu können - sie hingegen lässt sich unbeirrt ver- und in einer Schlüsselszene sogar entführen nach Venedig via 8-mm-Privataufnahme. Im Projektorflimmern wird das Sofa zur Gondel, der Geliebte zum Gondolier: Kino-Magie, der Fuller selbst freilich keine Sekunde auf den sentimentalen Leim geht. Unschuld ist bei ihm Tragödie, alles Schöne ein Trug und der schiefe Krüppelkinderchor allemal der Mondscheinsonate vorzuziehen. Wo spätere Kleinstadthorrorfilme voll heimlicher Erregung in die suburbanen Abgründe gaffen, macht DER NACKTE KUSS ihre Überwindung zur eigentlichen Sensation. Glühenderer Groschenhumanismus war nie bei Fuller, der per karrierespannendem Selbstzitat die Quintessenzialität des Films bestätigt: Im Kino läuft SHOCK CORRIDOR, als Reiselektüre hat Kelly "The Dark Page" eingepackt. Sie hätte doch wissen müssen, worauf sie sich einlässt.

DVD.
Bild und Ton sind tadellos. Keine Extras.








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