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KAPITELWAHL

LÄRM & WUT (Frankreich 1988)

von Björn Lahrmann

Original Titel. DE BRUIT ET DE FUREUR
Laufzeit in Minuten. 90

Regie. JEAN-CLAUDE BRISSEAU
Drehbuch. JEAN-CLAUDE BRISSEAU
Musik. nicht bekannt
Kamera. ROMAIN WINDING
Schnitt. JEAN-CLAUDE BRISSEAU . MARÍA LUISA GARCÍA . ANNICK HURST
Darsteller. BRUNO CRÉMER . FRANÇOIS NÉGRET . VINCENT GASPERITSCH . FABIENNE BABE u.a.

Review Datum. 2011-08-26
Erscheinungsdatum. 2011-02-18
Vertrieb. BILDSTÖRUNG

Bildformat. 1.33:1
Tonformat. DEUTSCH (DD 2.0) . FRANZISCH (DD 2.0)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Das Kind ist gewalttätig, weil der Vater gewalttätig ist; der Vater ist gewalttätig, weil er im Krieg war; der Krieg ist passiert, weil gewalttätige Väter gewalttätige Kinder in ihn geschickt haben: Diese plumpe Botschaft ließe sich ohne viel Mühe (allerdings nur mit einigem Boswillen) aus LÄRM & WUT herausfiltern. Ein Banlieue-Drama über verwahrloste Jugendliche, ein Schulfilm eines ehemaligen Lehrers, da sind Vorurteile praktisch im Paket inbegriffen. Tatsächlich ist es aber vor allem ein fehlendes Klischee, das auf die (recht bald in recht drastischer Auflösung begriffene) Realitätsbasis des Drehbuchs verweist: Bruno, 13, ein schüchterner Tropf mit Vogel, neu in den Hochhäusern der Vorstadt wie auch der zugehörigen Problemschule, wird von seinen Klassenkameraden nicht eine Sekunde lang gemobbt. Auf Anhieb nimmt ihn stattdessen Jean-Roger, übelster Rabauke der Stufe, unter die Fittiche und führt ihn ein in seine Welt aus Mofas, Knarren und Blowjobs.

Die Schulkinderparallelgesellschaft ist ein Motiv, das im deutschen Kino nie wirklich Fuß gefasst hat. Ungefähr wie in den USA eignete sich das Klassenzimmer hier allenfalls zum Schauplatz klamaukiger Entgleisungen, die zwar latent anarchisch, nie aber antisozial oder atavistisch ausfielen. Die französische Tradition dagegen - schon in ihrer komödiantischen Spielart weit radikaler (siehe Jean Vigos ZÉRO DE CONDUITE) - ist von der potenziellen Abgründigkeit des Themas von Anfang (also: von Cocteaus Roman LES ENFANTS TERRIBLES bzw. dessen späterer Melville-Verfilmung) an fasziniert. Statt den Erwachsenen bloß auf der Nase herumzutanzen, bilden die Kinder ein selbstgenügsames, von außen fremd und bedrohlich wirkendes Bandensystem mit eigenen Codes und Ritualen, die von zielloser Früherotik und Aggression diktiert werden.

Dies alles nur, um zu sagen, dass Jean-Claude Brisseaus zweiter Spielfilm eben nicht jener tages- bzw. immer-noch-aktuelle Sozialarbeiterfilm ist, als der er damals (mutmaßlich) in Cannes ausgezeichnet wurde, sondern in erster Linie ein Genre fortschreibt und erweitert. Er tut dies auf massiv exzentrische, nicht immer funktionstüchtige Weise als wilde Mixtur arthousiger und reißerisch-exploitativer Elemente: Sekündlich kann die (später von den Dardenne-Brüdern salonfähig gemachte) Verité-Tristesse der suburbanen Betonlandschaften postapokalyptische Züge annehmen, wenn Molotowcocktails aus den oberen Etagen fliegen und brennende Autos in Garagenpfeiler krachen. Nicht minder irritierend sind Brunos softerotische Tagträume eines nackten Ersatzmutterengels, deren Weichzeicher-Ikonografie je nach Zuschauerlaune anrührend sleazy oder kitschkünstlerisch wirken mag.

Was den Film auf Dauer an Kraft einbüßen lässt, ist die Zwanghaftigkeit, mit der er seine Verfremdungen und Überspitzungen zum Ende hin steigert. Als sei dokumentarische Nüchternheit den Pädagogen und Moralisten vorbehalten, zu denen Brisseau sich nicht gesellen will, karikiert er die Gewaltspirale mit immer gröberer Hand. Die problematischste Figur in diesem Kontext ist Jean-Rogers Vater, den Bruno Crémer als eine Art zügellosen Jean Gabin mit bäriger Imposanz versieht. Ein saufender Westernfanatiker mit stubeneigener Indianerschießanlage, ist er dem Sohn das größte Vorbild in Sachen Misogynie und höhnischer Staatsverachtung. Allerdings stempelt er Jean-Roger dadurch zum bloßen Nachahmungstäter und nimmt ihm zugleich die Autarkie der jugendlichen Rebellion, die in der schönsten Szene des Films ekstatisch Ausdruck findet: Da klettert der Junge, von der Lehrerin verfolgt, aus dem Klassenfenster und an der Schulfassade entlang, während unter ihm wie auf Geheimbefehl jubelnde Kindermassen aus den Türen stürzen. Ein mitreißender Moment nicht zuletzt deshalb, weil er in seiner Wahrhaftigkeit aus der surrealen schwarzen Komödie, in die sich LÄRM & WUT allzu zielstrebig verwandelt, heraussticht.

DVD.
Wie gewohnt ist technisch alles tipptopp. Das reichhaltige Bonusmaterial umfasst neben Begleitbuch (Texte von u.a. Barbet Schroeder), Making of und Interview von damals ein aktuelles halbstündiges Kommentar-Feature, bei dem Brisseau sich höchstpersönlich durch seinen Film spult. Gegenüber dem handelsüblichen Audiokommentar hat das nicht nur den Vorteil der bekömmlicheren Dosis, sondern auch, dass man den Regisseur in Boxershorts und Schlabbershirt zu sehen bekommt.








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