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KAPITELWAHL

ELF UHR NACHTS (Frankreich 1965)

von Björn Lahrmann

Original Titel. PIERROT LE FOU
Laufzeit in Minuten. 105

Regie. JEAN-LUC GODARD
Drehbuch. JEAN-LUC GODARD
Musik. ANTOINE DUHAMEL
Kamera. RAOUL COUTARD
Schnitt. FRANÇOISE COLLIN
Darsteller. JEAN-PAUL BELMONDO . ANNA KARINA . SAMUEL FULLER . GRAZIELLA GALVANI u.a.

Review Datum. 2010-08-19
Erscheinungsdatum. 2010-08-05
Vertrieb. ARTHAUS/KINOWELT HOME ENTERTAINMENT

Bildformat. 2.35:1 (anamorph)
Tonformat. DEUTSCH (DD 2.0) . ENGLISCH (DD 2.0) . FRANZÖSISCH (DD 2.0)
Untertitel. DEUTSCH . ENGLISCH . NIEDERLÄNDISCH . SPANISCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Streicherklänge in der Luft. Auf einem Steg am Hafen sitzt ein Mann und summt die Melodie, die nur er hören kann. Ein zweiter Mann tritt dazu. Der erste erzählt dem zweiten die Geschichte von der Melodie, die ihn seit zehn Jahren verfolgt, weil er sie drei Frauen vorgesungen hat, die Frage: Liebst du mich? als ansteigende Notenfolge. Eine hat nein gesagt. Eine ja. Einer durfte er die Hand streicheln. Als er zuende erzählt hat, verstummt die Musik. Ob er verrückt sei, will der Mann von dem anderen wissen. Der bejaht trocken und springt auf ein startendes Motorboot, während der Zurückgelassene ihm hilflose Beschimpfungen hinterherschreit.

Für den Moment kann ich mich keiner rührenderen Szene in einem Film von Godard, Jean-Luc Cinéma Godard, entsinnen. Wie so vielen in ihrer Breitenwirkung unschätzbaren, in ihrer Manier aber letztlich einmaligen Kunstformerneuerern ist ihm nichts heilig, bis auf die Sache zwischen Mann und Frau. PIERROT LE FOU (den völlig sinnlosen deutschen Titel vergessen wir mal) ist in dieser Hinsicht absolute Werkspitze: eine amour fou, um die herum alles - Welt, Sinn, Geschichte, Kino - in hohem Bogen in die Luft fliegt. (Es gab tatsächlich eine Romanvorlage, "Obsession" von Lionel White, nicht, dass man davon noch irgendwas mitbekäme.) Ferdinand (Belmondo) und Marianne (Anna Karina) flüchten miteinander, er aus bourgeoiser Familienvaterexistenz, sie vor den Bullen, weil ihr angeblicher Bruder angeblich Waffen schmuggelt. Was folgt, ist Krimi, Road Movie, Musical, Love Story und nichts von alledem zugleich. Tortenschlacht und Feuerwerk, Explosion und Ballerei, schicke Autos, schöne Frauen: Das ganze Vokabular des Genrefilms als ungehemmter Tourette-Anfall.

Leben ist Kino ist ein Schlachtfeld der Emotionen: So bekommt Ferdinand es zu Anfang des Films erklärt, von Sam Fuller, der zufällig dieselbe langweilige Haute-Volée-Party besucht. Jeder Raum knallig monochrom wie Warhol-Drucke, die Leute kommunizieren ausschließlich in Werbeslogans miteinander. Konsumkritik? Au contraire, man sollte diesen Film auf eine Litfaßsäule projizieren! Godards erste Schaffensphase, auf deren Höhepunkt PIERROT LE FOU entstand, quillt dermaßen über von ikonischen Momenten (Kamera: Raoul Coutard), dass sich sein Werk am ehesten als Serie kurzer Clips in die Erinnerung brennt: Das Wettrennen durch den Louvre, die Galaxie in der Kaffeetasse, der Arsch der Bardot, die Tränen der Nana S. Oder im vorliegenden Fall: Die Sonne überm Mittelmeer, Vietnam als Fingertheater, Belmondos in Dynamitstangen gewickelter Kopf, das endlose Spiel von Rot und Blau.

Und das Gerede? Ein heilloses Kuddelmuddel von Parolen, Wortspielen, Lügengeschichten, Zitaten, Pop, Poesie, Politik. Natürlich ganz viel Klugscheißerei und Halbernstgemeintes darunter, linke Satire und Satire linker Satire. Godard ist ebensosehr Revolutionär wie Kobold und Scharlatan, einer, der die Nasführung seiner zukünftigen Exegeten immer schon mitgeplant hat. Intellektuelles Vorbild zumindest dieses Films ist nicht etwa André Bazin, sondern Friz Freleng und seine anarchischen Warner-Cartoons. Wie Bugs und Daffy tollen Belmondo und la Karina über Land und Wasser, auf dem Höhepunkt von Style und Stardom und dennoch gestrandet, verloren wie nie. Die Zivilisationsflucht gerät zur Groteske, selbst eine zeitweilige Robinsonade im Küstenidyll entpuppt sich als Selbstinszenierung. Die ganze Welt ein Zeichen-Trick. Am Ende werden die Liebenden, wie es halt kommen muss, einander verraten. So macht die Leidenschaft, die Kino heißt, Idioten aus uns allen. Kabumm.

DVD.
Bild und Ton sind exzellent und rauschfrei restauriert. Als Bonus lockt neben Trailerkrams ein Audiokommentar von Krimiautor Jean-Bernard Poupy, der äußerst kenntnisreich die popkulturellen Wurzeln des Films freilegt.








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