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KAPITELWAHL

ERZÄHLUNGEN DER VIER JAHRESZEITEN (Frankreich 1990-1998)

von Björn Lahrmann

Original Titel. CONTES DES QUATRE SAISONS
Laufzeit in Minuten. 428

Regie. ERIC ROHMER
Drehbuch. ERIC ROHMER
Musik. SÉBASTIEN ERMS
Kamera. LUC PAGÈS . DIANE BARATIER
Schnitt. MARÍA LUISA GARCÍA . MARY STEPHEN
Darsteller. CHARLOTTE VÉRY . MELVIL POUPAUD . AMANDA LANGLET . MARIE RIVIÈRE u.a.

Review Datum. 2010-08-17
Erscheinungsdatum. 2010-07-01
Vertrieb. ARTHAUS/KINOWELT HOME ENTERTAINMENT

Bildformat. diverse
Tonformat. DEUTSCH (DD 2.0) . FRANZÖSISCH (DD 2.0)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Eric Rohmer, dessen Filme Gene Hackman in Arthur Penns NIGHT MOVES mit dem Trocknen von Farbe verglich, was seither in jeder verdammten Rezension (auch dieser hier) nachgebetet werden muss - Eric Rohmer ist ein Meister seines Fachs. Das Fach, damit keine Missverständnisse aufkommen, lautet: Regie. Man vergisst das gern angesichts des Ruchs, der ihn und sein Werk noch heute miefig umflort. Ein ehemaliger Gymnasiallehrer, galt Rohmer zeitlebens als am wenigsten radikaler, gar konservativ-rückständiger Vertreter der Nouvelle Vague. Seine Filme werden gemeinhin verteufelt als: stocksteif, furztrocken, theaterhaft, verkopft, gefühllos und, am schlimmsten: dialoglastig. Menschen, die angeregt miteinander plaudern: Wer will das bitte sehen? Andererseits: Wer nicht?

Dass Rohmers Figuren einen tatsächlich übermäßigen Reflexions- und v.a. Selbstreflexionshunger zu decken haben, ist nicht abzustreiten. Erst reden sie, dann reden sie, und wenn sie sich ausgeredet haben, reden sie noch ein bisschen mehr. Worüber? Natürlich: Über die Liebe, ihre Parameter und Konventionen, wie sie funktionieren (oder nicht), ihre Widersprüche, wie sie entmutigen (oder anheizen), über lächerliche Hoffnungen, basale Lüste, krude Eifersüchte u.s.w. Kaum ein Feigenblatt wird dabei vor den Mund genommen; das Reden, könnte man meinen, ist diesen Figuren bloß Mittel zum Zwecke filmischer Salonfähigkeit: Täten sie es nicht, würden sie deprimiert aufs Meer schauen, oder einander wortlos anschmachten, oder traurig voneinander wegsehen, oder wild küssen, oder mehr. (Vielleicht ein Experiment wert: Rohmerfilme mit Hardcoreszenen zu unterschneiden.) Das Rohmer'sche Gesamtwerk bildet eine Enzyklopädie romantischer Diskurse, unter deren Verzögerung der Kitzel körperlicher Anbahnung umso stärker zu spüren ist.

Die "Erzählungen der vier Jahreszeiten" sind - nach den "Moralischen Erzählungen" der 60er und 70er sowie den "Komödien und Sprichwörtern" der 80er Jahre - der dritte Zyklus in Rohmers Filmografie. (Wer so schon sein Oeuvre unterteilt, muss sich über Literarizitätsvorwürfe nicht wundern!) Zum Einstiegspunkt taugen sie nur bedingt; dafür sind eher die luftig durchkomponierten "Komödien" zuständig, während die philosophielastigen "Moralischen Erzählungen" eingefleischten Rohmerianern vorbehalten bleiben dürften. Die "Jahreszeiten" liegen mit ihren unentschlossen umeinander kreisenden Protagonisten irgendwo dazwischen. Stärker noch als im Backkatalog treten hier an die Stelle eines ordinären Plots spielerische, frei flottierende Partnerschafts- als Versuchsanordnungen: Im WINTERMÄRCHEN steht eine Frau zwischen drei Männern, im SOMMER ein junger Mann zwischen drei Frauen. FRÜHLINGSERZÄHLUNG und HERBSTGESCHICHTE behandeln heimliche Verkupplungsversuche unter Freundinnen.

Die amouröse wie biografische Flatterhaftigkeit seiner Figuren (die sie sich als Angehörige der gebildeten Mittelschicht freilich auch leisten können) ist Rohmer mannigfaltiger Anlass zum Reisen. Kaum ein anderer Filmemacher hat die Geografie Frankreichs so liebevoll-erschöpfend abgesteckt und abgedeckt wie er; ein deutsches Äquivalent fällt gar nicht erst ein. Die Jahreszeiten sind - mehr als schnöde Lebensabschnittsallegorie - ein Vorwand, Regionen ihrem Charakter gemäß ins Bild zu setzen: das im zeitentrückten Winterschlaf liegende Loiretal, wohin sich die alleinerziehende Mutter Félicie vorm Phantasma des verschollenen Kindsvaters flüchtet; die tanggrünen Urlaubsstrände der französischen Atlantikküste, wo der brüterische Mathematikstudent Gaspard, im Harren auf seine Angebetete, Seemannslieder komponiert; oder die unter bukolischer Herbstsonne ruhenden Weinberge der Région Rhône-Alpes, in die sich die Winzerwitwe Magali vor den Männern zurückgezogen hat.

Unter Rohmers Blick offenbaren diese Landschaften ihre sinnlichen Qualitäten. Mit der Leichtigkeit eines Spaziergängers durchstreift die Kamera Wege, die die Figuren ihr vorgeben; so entsteht nie der Eindruck luftleerer Gemäldenachstellerei, weil jeder Rahmen, jede Bewegung an erzählerische Notwendigkeit gekoppelt ist. Über die sorgfältige Licht- und Farbidentität seiner Filme hat Rohmer in Interviews ausgiebig Rede und Antwort gestanden; sogar die Auswahl der Kostüme trifft er höchstpersönlich. Am Liebsten arbeitet er mit jungen, unverbrauchten Darstellern - vorzugsweise schönen Frauen -, die der Komplexität ihrer Rollen noch ohne Typenballast begegnen können.
Wie sein philosophisches Programm niemals auf leere Sophisterei hinausläuft, sondern in handfesten praktischen Problemen sich gründet, ist auch Rohmers filmische Ästhetik ganz dem Alltäglichen verpflichtet. Dem Leben kommt er im Kino am Nächsten: eine Paradoxie, die in jeder Form von künstlerischem Realismus schlummert und die Tocotronic (horribile dictu!) in diesem speziellen Fall wohl am pointiertesten ausgedrückt haben: "Und im Leben geht's oft her / wie in einem Film von Rohmer / und um das alles zu begreifen / wird man, was man furchtbar hasst / nämlich Cineast."

DVD.
Im Idealfall können und sollen Boxen mehr sein als vier Einzel-DVDs mit einem Stück Pappe drumrum. Dennoch ist das einzig erwähnenswerte Extra dieses Quartetts ein kurzes Audio-Interview mit dem Meister, zu finden auf der WINTERMÄRCHEN-Disc. Angesichts der Bildqualität dieses Films, der scheinbar von einer ollen deutschen Videokassette gezogen wurde, wirkt das wie ein Besänftigungsversuch. Die anderen drei Filme, deutsche Erstveröffentlichungen allesamt, stellen technisch indes zufrieden, je jünger, desto besser.








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