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KAPITELWAHL

SYNECDOCHE, NEW YORK (USA 2008)

von Björn Lahrmann

Original Titel. SYNECDOCHE, NEW YORK
Laufzeit in Minuten. 120

Regie. CHARLIE KAUFMAN
Drehbuch. CHARLIE KAUFMAN
Musik. JON BRION
Kamera. FREDERICK ELMES
Schnitt. ROBERT FRAZEN
Darsteller. PHILIP SEYMOUR HOFFMAN . CATHERINE KEENER . SAMANTHA MORTON . TOM NOONAN u.a.

Review Datum. 2010-04-11
Erscheinungsdatum. 2009-12-10
Vertrieb. HMH

Bildformat. 1.77:1 (anamorph)
Tonformat. DEUTSCH (DD 5.1/DD 2.0) . ENGLISCH (DD 5.1)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Zumutungen tun manchmal gut. Zu Zumutungen gehört Mut dazu, der Mut, die richtigen Leute auf dem falschen Fuß zu erwischen. Dass Charlie Kaufman ein Zumutungsgemüt besitzt, hatten seine postmodern versponnenen Drehbücher für Spike Jonze (BEING JOHN MALKOVICH, ADAPTION) und Michel Gondry (VERGISS MEIN NICHT) bereits angedeutet. Die höchsten Weihen der Ungnade brachte ihm hierzulande jedoch erst sein eigenes Regiedebüt ein: Kein deutscher Kinostart für SYNECDOCHE, NEW YORK, lustlose DVD-Auswertung mit anderthalb Jahren Verspätung. Wie kann es passieren, dass ein kultisch verehrter Autor, dessen Name bislang eine Garantie für brummende Programmkinos und heiße Studentencafé-Diskussionen war, derart durchs Raster fällt?

Vielleicht, weil Kaufman hier ein wenig zu tief in der Scheiße des menschlichen Bewusstseins rührt, und zwar buchstäblich: Caden Cotard (Philip Seymour Hoffman), Theaterregisseur mit ausgeprägtem Hang zu Larmoyanz und Hypochondrie, gerät in eine Krise, als seine morgendlichen Ausscheidungen die Farbe wechseln. Mit dem Exkrementenlöffel hockt er über der Schüssel und sucht nach Blut im Stuhl, dabei hätten andere Lebensbereiche eine Untersuchung deutlich dringender nötig: Seine Karriere ist in der Sackgasse uninspirierter Arthur-Miller-Adaptionen angelangt, seine Ehe mit der Miniaturmalerin Adele (Catherine Keener) in der Paartherapie. Eingebildete Krankheiten befallen ihn im Minutentakt. Die Hauptdarstellerin seines Ensembles (Michelle Williams) macht Caden schöne Augen, das Kassenfräulein (Samantha Morton) lässt prall die Glocken baumeln. Adele geht für eine Ausstellung nach Berlin, nimmt die Tochter mit, kommt nicht wieder.

So weit, so midlife crisis. Nicht lange allerdings, bis Kaufman in den Plot eine Meta-Ebene einzieht wie einen doppelten Boden im Theater. Ein millionenschweres "Genie-Stipendium" erlaubt es Caden, sich ein Traumprojekt zu erfüllen: Er mietet eine riesige Lagerhalle inmitten von New York, lässt darin die Stadt im Originalmaßstab nachbauen und bevölkert sie mit Kopien der Menschen aus seinem Leben. Sich selbst lässt er von dem sensiblen Stalker Sammy (Tom Noonan) spielen, der in seiner Funktion als Regisseur sogleich ein Duplikat seiner selbst anheuert, usw. Innerhalb des zweiten New York entsteht eine zweite Lagerhalle, wo die Stadt ein drittes Mal mit drittem Personal nachgebaut wird, usf. Ein Skript gibt es nicht, ein Publikum ebenso wenig, die Proben dauern Jahrzehnte.

Die Bretter, die die Welt bedeuten: In SYNECDOCHE, NEW YORK bedeuten sie gerade das – also: eine äußere Realität – nicht mehr. Die Einstiege und -griffe in fremde Köpfe, die Charlie Kaufmans bisheriges Werk wie rote Fäden durchziehen, erfahren hier ihre polare Umkehr: Cadens Geist expandiert wie ein schwarzes Loch und vereinnahmt restlos alles, was ihm in den Weg kommt. Die Welt wird zum Panoptikum seiner Persönlichkeit, sogar in Trickfilmen im Fernsehen erscheint er als Hauptfigur. Fast ausnahmslos mit Frauen besetzt er die Nebenrollen, mit denen er fast ausnahmslos Affären hat. In der obsessiven Wiederholung biografischer Stationen äußert sich ein ganzes Bündel von Sehnsüchten: Aus Zufall möge Schicksal werden, aus Trauma erträgliche Routine, aus vorbeirasender Zeit ein ewiger Loop, und aus den wenigen Glücksmomenten eingravierte Herzchen in der Baumrinde des Lebens. Was Caden sich statt dessen errichtet, ist ein Monument der Einsamkeit.

In der Ästhetisierung ist kein Trost mehr zu finden. Im Vergleich mit den Pappschachtel-Extravaganzen von Jonze und Gondry mutet Kaufmans Eigenregie geradezu spartanisch an, die Wahl filmischer Mittel einfach (Halbtotale, Schuss-Gegenschuss), das Casting berechenbar, der Ton gedämpft. Gedreht wurde on location, New York unter Grauschleier, die Glaskuppel am Horizont mit unauffälligen Computertricks eingefügt. Die Illusion wächst in der Lücke, die klafft zwischen profaner Inszenierung und Kaufmans wild wuchernder Mindfuck-Fantasie. Nur selten bemüht er handfeste surreale Effekte – etwa das stetig vor sich hin brennende Haus der Kassendame, oder Rosen-Tattoos, die im Tod vom Arm welken –, die Traumlogik seiner Erzählung speist sich vielmehr aus geschickter Manipulation von Raum und Zeit: Die Sets wirken weniger verspielt als gerümpelig-formlos, man weiß nie so genau, wo eine Bühne aufhört und die nächste beginnt; und die schlaglichthafte Montage überbrückt mit einfachen Blenden ganze Dekaden.

Eine Komödie ist SYNECDOCHE, NEW YORK nur noch insofern, wie alles menschliche Streben in seiner Vergeblichkeit lächerlich ist. Die Grundstimmung ist die eines Begräbnisses; von der Cannes-Premiere wird berichtet, das Publikum habe sich im Anschluß mehrenteils betrunken. Zähneknirschend kaut Caden Cotard das harte Brot der Existenz, reflektiert unentwegt über Scheitern, Krankheit, Alter und Tod. Eine Satire auf monadisches Künstlertum ist seine Geschichte höchstens in zweiter Linie: Nicht die Kunst imitiert hier das Leben, sondern das Leben sich selbst auf jämmerlichste Weise. Die Perfidie des Films liegt in der Gewöhnlichkeit von Cadens Vita, der stinknormalen Abfolge von Ehe, Kindern, Scheidung, beruflicher Krise. Caden ist, mit anderen Worten, ein Jedermann, so hilflos, bitter und einsam wie der ganze Rest. In der Lagerhalle seines Bewusstseins schreit er nach anderen Menschen und wird vom Feedback der eigenen Seele taub.

DVD.
Über Bild- (bröckelig) und Tonqualität (mäuschenstill) gibt die Presse-DVD hoffentlich keine endgültige Auskunft. Die deutschen Untertitel vermasseln konsequent jede literarische Anspielung. Extras gibt es eine ganze Menge, z.B. ein interessantes halbstündiges Interview mit Kaufman, lobendes Genuschel von Hoffman und ein aufschlußreiches Feature über die technischen Aspekte der Dreharbeiten. Fehlen tut leider der u.a. mit Glenn Kenny und Karina Longworth besetzte Blogger-Roundtable zum Film, mit dem die amerikanische Edition aufwartet.








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