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KAPITELWAHL

DAS GRAB DER SONNE (Japan 1960)

von Björn Lahrmann

Original Titel. TAIYÔ NO HAKABA
Laufzeit in Minuten. 84

Regie. NAGISA ÔSHIMA
Drehbuch. TOSHIRÔ ISHIDÔ . NAGISA ÔSHIMA
Musik. RIICHIRO MANABE
Kamera. KO KAWAMATA
Schnitt. KEIICHI URAOKA
Darsteller. MASAHIKO TSUGAWA . KAYOKO HONOO . ISAO SASAKI . FUMIO WATANABE u.a.

Review Datum. 2009-11-27
Erscheinungsdatum. 2009-11-06
Vertrieb. POLYFILM/ALIVE

Bildformat. 2.35:1 (anamorph)
Tonformat. JAPANISCH (DD 2.0)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Die deutsche DVD-Landschaft kommt einem ja gelegentlich vor wie das Gebiss eines ewigen Kleinkinds: Mehr Lücken als alles andere und jede Menge Brei dazwischen. Manchmal zahnt es aber eben doch gewaltig, und das gehört dann dick und rot im Kalender angestrichen. Die Edition "Japanische Meisterregisseure" des österreichischen Labels Polyfilm ist so ein Anlass. Die Zahlen allein können einem der Mund wässrig und die Augen glasig machen: Über die nächsten zwei Jahre verteilt, werden in der ambitionierten Reihe insgesamt 22 Filme von vier Regisseuren erscheinen. Der bekannteste (und in Deutschland am sträflichsten vernachlässigte) dürfte Yasujiro Ozu sein, während die Namen Yoshitarô Nomura und Keisuke Kinoshita auf spannende Neuentdeckungen hoffen lassen.

Den Anfang macht allerdings Nagisa Ôshima, und das ist beinahe so etwas wie ein Versprechen: Kaum eine japanische Nachkriegsfilmografie ist derart vielfältig, radikal und unkanonisierbar. Ôshima, der Ende der 50er als Regieassistent bei Shochiku anfing und 1976 mit dem bis heute grotesk überschätzten Skandalkonsensfilm IM REICH DER SINNE einen Welthit lancierte, war die gesamten 60er hindurch in unberechenbarem Zickzack zwischen Neorealismus, Avantgarde und Kolportage unterwegs. DAS GRAB DER SONNE, seine vierte Regiearbeit, bedient zwar oberflächlich noch die Konventionen des damals lukrativen Taiyo-Zoku- bzw. Juvenile-Delinquent-Genres; jedoch weist schon der Titel – eine zynische Verkehrung des japanischen Selbstbildes als "Land der aufgehenden Sonne" – auf den brodelnden politischen Subtext hin.

Der Film spielt im Hafenviertel des Slums Kamagasaki, im Milieu der Bettler, Zuhälter, Schieber und Jugendgangs. Das Setting erinnert ein wenig an Seijun Suzukis Pulp-Ballade GATE OF FLESH, jedoch will Ôshima von Ganovenehre und Zweckskamaraderie nichts wissen: Hier ist ein jeder korrupt bis ins Mark und setzt folglich die Korruptheit der anderen immer schon voraus. Intrigen sind an der Tagesordnung, Allianzen bestenfalls flüchtig. Anfangs noch ein arg unübersichtliches Ensemblestück voller loser Nebenplots, verdichtet sich die Handlung bald um den naiven Takeshi, der in der Diebesbande von Shin seine Unschuld verliert, und die toughe, kaltblütige Hanako, die buchstäblich in Fleisch und Blut macht: Sie dealt mit Mädchen und lässt gegen einen Hungerlohn die Ärmsten der Armen zur Ader, deren Blutkonserven sie meistbietend weiterverkauft. Wer dafür zu schlechte Venen hat, kann in letzter Instanz immer noch seine Identität verhökern, indem er seinen Ausweis an illegale Immigranten losschlägt.

Mit fatalistischer Gnadenlosigkeit dokumentiert DAS GRAB DER SONNE den Selbstverschleiß einer sozialen Randschicht, die vom Aufschwung der 50er Jahre vergessen wurde. Der subversive Rebellengestus der Geächteten und Verstoßenen hat sich dabei längst nach innen gerichtet: Statt gegen ein System aufzubegehren, das ihnen keine Chance zum Ausbruch bietet, sind sie selbst zur Kopie dieses Systems geworden, in dessen Grenzen sich dieselben Machtstrukturen und Ausbeutungshierarchien herausgebildet haben. Der Solidaritätsgedanke der politischen Linken ist hier mit Nachdruck gescheitert: Die Wehrlosen werden behandelt wie Schlachtvieh, den Toten klaut man das letzte Hemd vom Leib, und die Gangs dezimieren sich, statt ihre Kräfte zu bündeln, lieber gegenseitig. Sex und Gewalt besitzen keine entgrenzende Funktion mehr, es wird gemordet ohne Finesse und gefickt ohne Leidenschaft. Im Hintergrund ist manchmal ein durchfahrender Zug zu sehen, der aber niemals hält, weil für die im Ghetto Gefangenen ein Außen als Fluchtpunkt gar nicht mehr existiert: Als Hanako einmal am hellichten Tag aus einem U-Bahn-Schacht tritt, steht sie mitten in einer menschenleeren Geisterstadt; der Geist ist, natürlich, sie selber.

Ôshima inszeniert das alles nicht als humanistisches Lamento, sondern mit dem furiosen Zorn der Verzweifelten. In gehetzten Vignetten treibt er seine Figuren ihrem unbarmherzigen Schicksal entgegen. Er pfercht sie in gedrängte, halbnahe Einstellungen, schneidet denen, die ohnehin keine Stimme besitzen, in Großaufnahme die Münder ab und lässt sie des Nachts in den Schatten versinken. Blanker Hohn sind die spektakulären Industriepanoramen im abendlichen Zwielicht, das den Himmel in Gold, Gesichter in Bronze und Schweiß in Silber verwandelt, die jedoch, wie alles Schöne hier, nichts wert sind. Anleihen bei modischer Pop-Ästhetik benutzt Ôshima allein, um die Ausweglosigkeit der Lage noch schärfer zu akzentuieren: Knallbunte T-Shirts kontrastieren mit dem grauen Elend der Slums, stumpfe Gewaltausbrüche werden von lakonischen Gitarrenmelodien untermalt. Sein vitriolischer Galgenhumor kulminiert im Bild der untergehenden Sonne, die als weißer Ball auf rotem Grund ein Fotonegativ der japanischen Flagge ergibt. Viel weiter entfernt als DAS GRAB DER SONNE kann man von einem offiziösen Staatsporträt in der Tat kaum sein.

DVD.
Die Scheibe steckt im dezent gestalteten Pappschuber, ein separates Titelblatt verhindert den FSK-Schmutzfleck. Bild und Ton sind für einen Film dieses Alters (und Seltenheitsgrades) erstklassig erhalten. Extras gibt es keine, was aber im Fall einer so engagierten, entdeckungsfreudigen Edition durchaus zu verschmerzen ist. Die nächste Veröffentlichung steht planmäßig im Dezember ins Haus: Ôshimas SING A SONG OF SEX.








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