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KAPITELWAHL

SOLARIS (Sowjetunion 1972)

von Björn Lahrmann

Original Titel. SOLJARIS
Laufzeit in Minuten. 159

Regie. ANDREJ TARKOWSKI
Drehbuch. FRIEDRICH GORENSTEIN . ANDREJ TARKOWSKI
Musik. EDUARD ARTEMJEW . J.S. BACH
Kamera. WADIM JUSSOW
Schnitt. LJUDMILA FEJGINOVA . NINA MARCUS
Darsteller. DONATAS BANIONIS . NATALIA BONDARTSCHUK . JURI JARWET . ANATOLI SOLONIZYN u.a.

Review Datum. 2009-11-23
Erscheinungsdatum. 2009-07-13
Vertrieb. ICESTORM ENTERTAINMENT

Bildformat. 1.85:1
Tonformat. DEUTSCH (DD 1.0)
Untertitel. keine
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Wie man eine Ursuppe kocht: Man nehme einen Fond aus verdrängten Erinnerungen, schneide großzügig frische Ängste und konservierte Sehnsüchte hinein, gieße die Mischung mit einem Sud aus abgehangenen Sünden auf und verfeinere das Ganze mit einer Messerspitze schlechten Gewissens. Bei korrekter Zubereitung, heißt es, vermag das Aroma gar Tote zum Leben zu erwecken. Solcherart zumindest ist die Suppe, die an der Oberfläche von SOLARIS brodelt, einem Planeten, dessen Geheimrezept zu entschlüsseln die Menschheit sich seit Jahrzehnten bemüht, ohne Erfolg, es ist zum Verrücktwerden. Was denn auch geschieht: Konfuse Nachrichten von der Orbitalstation lassen über den Geisteszustand der Crew Schlimmes ahnen, man schickt den Psychologen Kris Kelvin (Donatas Banionis) hinauf, nach dem Rechten zu sehen. Der entdeckt dort zwischen Verfall und Wahnsinn – ein Kosmonaut hat sich umgebracht, ein zweiter verbarrikadiert sich in seinem Labor, der dritte spricht in Orakeln – einen mehr als überraschenden Gast: Hari (Natalia Bondartschuk), Kelvins verstorbene Geliebte.

SOLARIS zählt zu jener heute eher nischenartig betriebenen Spielart der Science Fiction, wo fremde Welten nicht Austragungsort intergalaktischer Kriege, sondern Kontaktflächen mit dem eigenen Unterbewussten sind. Damals nach Kalter-Kriegs-Logik als "russische Antwort auf 2001" billettiert, hatte Andrej Tarkowski für Kubricks Film, dem er die inhumane Kälte eines Technikmuseums attestierte, nicht viel übrig. Ihm geht es in seiner berühmten Stanislaw-Lem-Adaption weniger um Astro- denn um Metaphysik. Spezialeffekt-Innovationen sucht man demnach vergeblich, zumal Fortschritt bei Tarkowski immer mit einer gegenläufigen Entwicklung von Ethik und Menschlichkeit einhergeht. Bester Beweis dafür ist Kelvins instinktiv skrupelloser Umgang mit der neuartigen "Technologie", die Solaris ihm zur Verfügung stellt: Der zweiten Hari einerseits in aufrichtiger Liebe verfallen, missbraucht er sie andererseits als Begnadigungsautomat, an dem er seine Verfehlungen an der ersten, echten Hari, die er in den Selbstmord getrieben hatte, zu vergelten sucht. Dabei ist er blind für die Existenzqualen der Replikantin, die weder ein Bewusstsein ihres früheren Lebens noch eine eigene Identität besitzt, zum Überleben aber dennoch auf Kelvins Nähe angewiesen ist.

In der Bibliothek der Station – vollgestopft mit einer Auswahl feinster irdischer Kulturgüter, wie jene Kapseln, die man von Zeit zu Zeit ins Weltall schießt, hoffend, eine außerirdische Zivilisation werde uns einst zu unserem erlesenen Geschmack gratulieren – versorgt Hari sich mit Artefakten ihres vorgeblichen Originals. Angestrengt vergleicht sie ein Porträtfoto mit ihrem eigenen Spiegelbild. Der Anspruch auf Deckungsgleichheit ist einer, an dem sie scheitern muss, der zaghafte Wunsch nach Autarkie nicht minder. Ihr erstes Erscheinen am Morgen nach Kelvins Ankunft hatte vor einem hell erleuchteten Fenster statt gefunden, als Figur auf der Leinwand eines träumenden Malers: In Wahrheit ist sie kein Duplikat der wirklichen Hari, sondern Kelvins idealisierte Phantasie derselben. Erneuter Selbstmord, erneute Geburt. Kelvin tappt derweil durch die Station wie ein unrasiertes Gespenst, in einem lächerlich initialbestickten Pyjama auf der Suche nach dem Schlaf, dem sie entsprungen war. Hinter den Fenstern die psychedelischen Kontraktionen des Solaris-Ozeans: ein Narzissbrunnen, der den Hineinschauenden mit nackter, hässlicher Selbsterkenntnis konfrontiert. (Insofern ist der Forschungszweig der Solaristik, dessen Erkundungsobjekt weder Ressourcen noch Urbarmachungspotenzial aufweist, eine rein anthropozentrische, ja eine Geisteswissenschaft.)

Die Ruhe und Langsamkeit, mit der Tarkowski all dies inszeniert, ist mit kunstgewerblicher Bleischwere, seine Spiritualität mit Kopflastigkeit nicht zu verwechseln. Wonach er strebt, ist ein kontemplativer Schwebezustand, der den gesamten Bildraum, jeden Schnitt, jede Bewegung, jedes Objekt, unspezifisch zwar, aber nachhaltig mit dem Leid seiner Protagonisten auflädt. Er sucht (und findet), anders gesagt, das Gravitätische in der Nullgravitation. Dagegen fließen Kelvins Diskussionen mit seinem Kollegen Snaut, in denen schwer gekantet, genietzscht und gehegelt wird, doch recht zäh vorüber. Blanke, rationale Erkenntnis, sagt Kelvin selber einmal, birgt immer auch die Gefahr, an ihr zu verzweifeln; glücklich sind vielmehr die, die keine Antworten auf die großen Fragen suchen, sondern sich der Geheimnisse des Lebens schlicht als solcher erfreuen. Weil Kelvin jedoch seinen eigenen Rat nicht behelligt, steht er bald vor einem epistemologischen Scherbenhaufen, an dem er sich fortwährend neue Wunden reißt.

Nirgends illustriert der Film dieses Dilemma eindrücklicher als in seinem ausgedehnten Prolog, der auf Erden statt findet, am Tag vor Kelvins Abreise, im Landhaus seines Vaters. Diese Sequenz, die zu den überwältigendsten Naturaufnahmen in der Geschichte des Bewegtbildes gezählt werden muss, zeigt eine Welt, der alle menschlichen Entzauberungsversuche ihre Rätsel nicht nehmen konnten. Die Kamera gleitet an in der Strömung undulierendem Seetang vorbei, hinauf in den Morgennebel, der über dem Wasser liegt, hinein ins Ufergras, in dem Kelvin steht, ein Phänomen unter vielen. Intuitiv stellt sich ein Gefühl für den Ort ein, ein Gefühl von Heimat, während die Raumstation, so simpel sie aufgebaut ist, ein undurchdringliches Labyrinth bleibt. (Als Gelenkstelle zwischen den Welten hat Tarkowski eine hypnotische Fahrt durch Tokioter Tunnel- und Hochstraßensysteme in den Film gefügt, die beinahe einen eigenen Text verdient.) Mit Symbolgewalt wird hier keinem Ding zu Leibe gerückt, alles ist belassen in seiner bloßen, ursprünglichen Präsenz: Der See ist ein See, der Nebel Nebel, und der Regen, der in die Kaffeetasse fällt, lässt – anders als in Godards 2 ODER 3 DINGE, DIE ICH VON IHR WEISS – keine Galaxien sprießen. Etwas später wird Kelvin hier seine akademischen Aufzeichnungen verbrennen, wie Laub, seine hehren Gedanken der Natur gleich machen, statt selbige mittels jener zu domestizieren. Tarkowski, das wird an dieser Stelle klarer denn je, ist ein religiöser Regisseur, und seine Konfession der Pantheismus.

DVD.
Das Bild ist recht grob und schwammig, dafür aber farbsatt, soweit es der herbstliche Grundton des Films zulässt. Einzige Tonspur ist die alte DEFA-Synchro, die aber einigermaßen gelungen ist und sich gut gehalten hat. Eine wahre Kuriosität ist das Bonusfilmchen, wo ein engagierter, unbequem in seinem Sessel fläzender Professor den philosophischen Unterbau von SOLARIS aufdröselt: Gedreht auf einer Plastik-Kommandobrücke, die offenbar von der letzten Star Trek Convention übrig geblieben ist, und bewehrt mit liebevoll aus farbiger Pappe gebasteltem Veranschaulichungsmaterial, wirkt das Ganze wie eine Offene-Kanal-Variante von Telekolleg Philosophie und der Knoff Hoff Show.








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