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KAPITELWAHL

ELECTRA GLIDE IN BLUE - HARLEY DAVIDSON 344 (USA 1973)

von Björn Lahrmann

Original Titel. ELECTRA GLIDE IN BLUE
Laufzeit in Minuten. 108

Regie. JAMES WILLIAM GUERCIO
Drehbuch. ROBERT BORIS
Musik. JAMES WILLIAM GUERCIO
Kamera. CONRAD L. HALL
Schnitt. JIM BENSON . GERALD B. GREENBERG . JOHN F. LINK
Darsteller. ROBERT BLAKE . BILLY GREEN BUSH . MITCHELL RYAN . ELISHA COOK u.a.

Review Datum. 2009-09-18
Erscheinungsdatum. 2009-06-26
Vertrieb. PIERROT LE FOU/ALIVE

Bildformat. 2.35:1 (anamorph)
Tonformat. DEUTSCH (DD 2.0) . ENGLISCH (DD 2.0)
Untertitel. DEUTSCH
Norm. PAL
Regional Code. 2

FILM.
Ein einsamer Imbisswagen mitten in der Wüste von Arizona. Artig aufgereiht stehen dort ein paar Kinder an, hinter ihnen, nicht viel größer: John Wintergreen (Robert Blake), Motorradpolizist. Zu zwei Frauen, die ihn deutlich überragen, blinzelt er hinauf und erklärt mit keckem Anmachgrinsen, er sei übrigens genauso groß wie Alan Ladd. Der hatte einst als Western-Ikone SHANE ganz ähnliche Landstriche von Schurken gesäubert wie jetzt Wintergreen, nur, dass letzterer meist den halben Tag warten muss, bevor er auf den leergefegten Highways mal einen Strafzettel verteilen darf. Sein Traum ist denn auch ein anderer: Kriminalpolizei, Mordkommission. Und tatsächlich: Eine Leiche findet, eine Chance ergibt sich bald. Unter den Fittichen des exzentrischen Detectives Harve Poole (Mitch Ryan) schickt Wintergreen sich an, seine wahre Größe zu beweisen.

ELECTRA GLIDE IN BLUE erzählt von einem kleinen Mann, der hoch hinaus will. Der sinnliche Originaltitel – in Deutschland zur Versandkatalognummer HARLEY DAVIDSON 344 neutralisiert – klingt verdächtig nach Fetisch, was die Eingangssequenz mit Nachdruck bestätigt: Schwitzende Muskeln, rohe Eier zum Frühstück, Leder, Knarre, Helmvisier. Close-ups samt und sonders, die die haptischen Details von Wintergreens Dienstkluft gierig liebkosen, um ihn dann, als ganzen Kerl, unter sinfonischen Orchesterfanfaren ins Gegenlicht zu schicken: Scorpio has risen. Draußen auf dem Highway dagegen droht er prompt, wie ein Staubkorn in der Landschaft zu verschwinden. Der Gegensatz von atomistisch zerstückelten Interieurs und Außenaufnahmen, die schamlos in Ford'schen Cinemascope-Panoramen baden, kennzeichnet diesen Film, der wohl nur auf dem Zenith des New Hollywood entstehen konnte und zugleich eins seiner eigentümlichsten Exemplare ist.

Während der kurzen Blüte des unabhängigen amerikanischen Autorenfilms – als Zeitraum werden üblicherweise die Jahre 1967 bis '76 angegeben – wurde unermüdlich an der Dekonstruktion historischer wie narrativer Mythen laboriert. ELECTRA GLIDE IN BLUE will in dieses radikale Paradigma nicht so recht hinein passen; er befährt vielmehr einen Mittelstreifen, wo die Kadaver überkommener Genres, die linker Hand längst vorbeigezogen sind, rechter Hand quicklebendig wieder auftauchen. Aus einem Polizeifilm ohne Polizeiarbeit wird ein Western ohne Pferde wird ein Whodunit ohne Mörder, die später jedoch alle drei – Arbeit, Pferde(stärken), Mörder – an den unerwartetsten Stellen nachgereicht werden. Die Übergänge von Konventionsverweigerung und -erfüllung geschehen dabei so plötzlich, dass der Film beizeiten eine flirrende, irreale Qualität bekommt.
Darüber hinaus ist ELECTRA GLIDE IN BLUE einer der ersten Filme, die den Rebellengestus des New Hollywood selbst schon als Mythos und Reflexionsmaterial verstehen. Die Unverfrorenheit, mit der er seinen sympathischen Bullenschwein-Helden auf dem Schießstand ein EASY RIDER-Poster zersieben lässt, nur, um schließlich selbst in einem markanten Zitat eben dieses Films zu münden, hat damals in Cannes kollektive Antifa-Reflexe ausgelöst. Dabei kündet das angebliche Versäumnis, aus seiner Form ein ausgesprochenes Politikum zu machen, ja gerade von jener kreativen Freiheit (oder: Befreitheit), die sich manch anderer Epochenvertreter mit dogmatischer Strenge verbaut hat.

Sein im besten Sinne unabhängiger Standpunkt erlaubt es dem Film, ganz unpolemisch ein breites Spektrum nationaler Neurosen aufzufächern. Von Klassendünkel und Anbiederungskultur, Paranoia und Fremdenhass beidseits der politischen Kluft erzählt er, ohne dabei jemals die Integrität seiner Figuren zu verraten: Abgesehen von Detective Poole, der als impotenter Fascho mit Gottkomplex eine arg grelle Überzeichnung erfährt, behandelt der Film sein Personal mit unparteiischem Mitgefühl – die desillusionierten Späthippies ebenso wie die geltungssüchtigen Redneck-Polizisten, deren kollidierende Lebensentwürfe im verzweifelten Tasten nach dem Glück vereint sind.

Im Brennpunkt all dieser Ängste und Sehnsüchte steht John Wintergreen, auf dem der American Dream wie ein Albdruck lastet. Heimgekehrt aus Vietnam in ein Leben, das er als Vakuum empfindet, glaubt er sein Heil im beruflichen Aufstieg finden zu können. Die religiöse Konnotation dieses Himmelfahrtstraums verdeutlicht der Film überaus pointiert, wenn er John beim Finden der Leiche ausrufen lässt: "This is my body!" Doch statt einer Abendmahlsgemeinde fördert sein Streben bloß grenzenlose Einsamkeit zutage. Mit seinen Ambitionen fällt Wintergreen buchstäblich aus dem Rahmen, den der Film ihm steckt; immer wieder akzentuiert die Kamera seinen kleinen Wuchs, indem sie über seinen Kopf hinweg filmt. Zwischen Wunsch und Realität klafft ein unkittbarer Riss, der mitten durch ihn hindurch verläuft – durch 'Winter' und 'green'; durch die Beengt- und Verlorenheit in der Kadrierung; durch den braunen Anzug mit Dienstwagen, worin sich seine Detective-Fantasie artikuliert, und die blaue Uniform nebst Harley Electra Glide, die der Filmtitel ihm zugesteht.

Einmal sehen wir John in einem leeren Konzertsaal sitzen, allein mit dem Hausmeister, der im Seitengang soeben den Müll zusammengekehrt hat. Dieser Müllhaufen, sagt John, sei mehr wert als alles, was er in seinem Leben je geleistet habe. Von hinten strahlt ein Spotlight über ihn hinweg zur Bühne und markiert damit die Richtung, die das amerikanische Kino in den Folgejahren stärker denn je einschlagen sollte: hin zur Attraktion, die vorn vorüberflackert, während das Publikum seinen Müll unterm Sitz verstaut. ELECTRA GLIDE IN BLUE entwirft dazu einen prismatisch gebrochenen Gegenblick, der auch im Kontext von New Hollywood eine elektrisierende, unbedingt sehenswerte Alternative darstellt.

DVD.
Das kontrastreiche, leicht gekörnte Bild ist hervorragend erhalten, die Mono-Tonspur für die Entstehungszeit des Films erstaunlich klar. Als Extras beinhaltet die DVD einen etwas schleppenden Audiokommentar von James William Guercio sowie eine fast aufschlussreichere zehnminütige Einführung desselben, worin er die mehr als idealen Produktionsbedingungen seiner einzigen Regiearbeit erläutert: Von Hause aus erfolgreicher Musikproduzent, war ELECTRA GLIDE für Guercio eher ein Liebhaberprojekt, für das er von einem befreundeten Studioobersten freie Hand bekam. Seine Gage überschrieb er komplett dem gefragten Kameramann Conrad Hall, der zuvor BUTCH CASSIDY AND THE SUNDANCE KID einen ganz eigenen Glanz verliehen hatte, und für die Inszenierung der zentralen Motorradjagd wurde Bill Hickman, Stunt-Koordinator bei BULLITT und VANISHING POINT, verpflichtet – was mal wieder beweist, dass die inzestuöse Vetternwirtschaft, an der die Generation der "movie brats" zum Teil zerbrochen ist, auch einer ihrer größten Trümpfe war.








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