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FILM.
Deutschland im Sommer 1990: Guido (Jacob Matschenz) ist achtzehn, wohnt im Neandertal und hat Neurodermitis. Was von den dreien die schlimmste Krankheit ist, bleibt unklar, wahrscheinlich macht's die Kombination. Gegen die Krätze hat er unternommen, was jeweils gerade in Mode war, von Chemie bis Eigenurin; gegen die Kleinstadt dito, also lange Haare, schwarze Klamotten und Wettsaufen. Nach einem besonders maßlosen Gelage wacht er mit abgescheuertem Gesicht auf, da heißt's dann: kurze Haare, weiße Klamotten und Reiskeksdiät. Das ist auf lange Sicht ein armseliges Leben, findet auch sein weltverdrossener Vater und vögelt mit der besten Freundin der Mutter dagegen an, dass die Treppe quietscht. Guido hört, sieht, erkennt und flieht aus der rotverklinkerten Reihenhaussiedlung in die linke Szene-WG seines Bruders. Dort trifft er auf Rudi (Andreas Schmidt), einen spöttischen, knarrenschwingenden Outlaw, den er aufs Heftigste zu idolisieren beginnt. Mit Rudis Unterstützung macht sich Guido an den schwierigen Häutungsprozess vom Neandertaler zum homo sapiens.
Entgegen der künstlerischen Bauernregel, autobiografische Stoffe zwecks Karriereboost immer als erstes zu verwursten, hatte Ingo Haeb als Drehbuchautor bereits zwei Langfilme (NARREN, AM TAG ALS BOBBY EWING STARB) in der Vita, bevor er sich für sein Regiedebüt bei selbiger bediente. Das Jammer- und NEANDERTAL der Jugend zeichnet Haeb als passiv-aggressive Kleinbürgermisere, in der Kommunikation ein Fremdwort ist und Probleme stets unterm Topfdeckel am Köcheln gehalten werden. Von Mauerfall, Fußball-WM und Aufbruchstimmung, die irgendwo weit weg stattfinden, ist in dieser Trutzburg westdeutschen Spießermiefs wenig zu spüren; alles Revolutionäre wird hier postwendend unschädlich institutionalisiert (herrlich lebensnaher Lehrer-Schüler-Dialog: "Ich mache die Wiedervereinigung zum Abiturthema." – "Das können Sie nicht machen, wir haben uns das ganze Jahr auf den Holocaust vorbereitet!"). Guidos Krankheit dagegen schwemmt die sorgsam verdrängten Konflikte an die Hautoberfläche und zwingt das Totgeschwiegene gleichsam allen Blicken auf (woran die tadellose Maske einen nicht unwesentlichen Anteil hat). Die rote Schorfkruste an Gesicht, Armen und Brust fungiert dabei zugleich als Schutzpanzer und offene Wunde. Mit allem, was sich in dieser glatten Welt als Reibefläche bietet, kratzt Guido gegen die Asepsis der Verhältnisse an, bis er in einer TERMINATOR-haften Traumsequenz kein Stahlskelett, sondern nacktes, verletzliches Muskelgewebe freilegt.
Dass der Film unterm Gewicht seiner dermatologischen Multimetapher nicht zusammenkracht, verdankt sich maßgeblich zwei Faktoren: Zum einen besitzt Haeb ein Gespür für sprachliche Authentizität, die nicht durch die Qualitätskontrolle bühnenverstaubter Prestigeproduktionen gegangen ist. Tongenau trifft er verschiedene soziale Register, von Rudis rechtsrheinischem Klartext über die euphemistische Eierschaukelei der Selbsthilfegruppe bis zum Small-Talk-Zeremoniell am Frühstückstisch. Zum anderen kann er sich mit Jacob Matschenz und Andreas Schmidt auf zwei quirlige Hauptdarsteller verlassen, die ihren Figuren noch dann ein scharfes Profil zu verleihen wissen, wenn das Drehbuch mal wieder in Richtung Typenhaftigkeit ausrutscht. Gerade Schmidt – eine Art subtiler Ralf Richter ohne Brüllaffenautomatik, so unmöglich das klingen mag – meistert den Balanceakt zwischen Sympathieträger und Borderlinefall mit Bravour.
Woran es NEANDERTAL indes erheblich mangelt, ist erzählerische Stringenz und die ein oder andere originelle Idee. Das Skript mäandert und neandert sich so dahin entlang der hinlänglich bekannten Stationen des Bildungsromans, die abgearbeitet werden wie Kapitel in einem Lebensratgeber: Zu Anfang zieht's den Jungen hinaus in die weite Welt zwischen Erkrath und Mettmann, wo er sogleich auf einen Mentor trifft, der ihn lehrt, seinen inner freak zu embracen, Weibsvolk und Drogen herbeischafft und sein Mündel zu guter Letzt auf den Pfad der Kunst bringt (in Guidos Fall: "Krätzekunst"). Nach getanem Soll bekommt, wie schon die eine, so auch die andere Vaterfigur Risse, was Abnabelung und Mannwerdung einem mehr oder minder glücklichen Ende entgegenkatalysiert. Zur jahrhundertealten Tradition passt, dass kaum ein Ploteinfall aus dem historischen Setting mehr macht als eingeworfene Schlagwörter und ulkige Möbel. Vor der Kamera schwebt allzeit der Kneipenqualmfilter deutscher Erinnerung, und das Gros der Nebenfiguren (allen voran die Performancekunstclowns aus Rudis WG) kommt über eine Füllfunktion nicht hinaus. Was mal wieder beweist: Das Leben mag zwar die besten Geschichten schreiben – in Sachen Eleganz und Drive hat es allerdings dringenden Nachholfbedarf.
DVD.
Das Bild ist makellos, der Ton stellenweise etwas dumpf und einebnend geraten, was das Stimmenverständnis erschwert. Als Extras gibt es Deleted Scenes; eine Art Neurodermitis-Aufklärungs-Interview mit Haeb und seiner damaligen Therapeutin, die sich im Film selbst verarschen darf; ein FX-Feature mit den beiden netten Maskenbildnerinnen; sowie einen übervölkerten Audiokommentar, der offenbar im Badezimmer aufgenommen wurde, so verhallt hört er sich an. Immerhin haben die fünf Teilnehmer – Haeb, sein Co-Pilot Jan-Christoph Glaser, Matschenz, Kameramann Ralf Mendle und Musiker Jakob Ilja – zu jeder Szene einen Kessel Buntes zu erzählen, sei's über den On-Set-Alkoholkonsum oder kleine Steadycam-Hommagen an Gus Van Sant. Angesichts der vielen gelangweilten Audiokommentare, bei denen alle fünf Minuten mal ein Satz gemurmelt wird, eine angenehme Überraschung.
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