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Polar: So wird in Frankreich der Kriminalfilm genannt. Ein schöner doppeldeutiger Begriff, der aus den Worten Police und Argot zusammengesetzt ist. Staatsgewalt und Gaunersprache also. Räuber und Gendarm. Ein ewig populäres Thema, das in Frankreich seit der Erfindung des Kinos auf der Leinwand zu sehen ist.
Ein Buch über nicht-amerikanisches Genrekino ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit, denn es erfährt in Deutschland wenig bis keine Beachtung. Die Aufmerksamkeit gilt einerseits dem Programm der Multiplexe mit hauptsächlich US-amerikanischer Konfektionsware, andererseits dem bildungsbürgerlichen Festivalkino. Ausländische Genrebeiträge landen bis auf wenige Ausnahmen direkt im DVD-Regal und somit außerhalb des Wahrnehmungsbereiches der Filmkritik. Kaum ein Wort davon, dass der Polar in den letzten Jahren dank Filmemachern wie Olivier Marchal, Frédéric Schœndœrffer oder Fred Cavayé nach einer Schwächephase wieder zu alter Qualität zurückkehrte und im Heimatland gewaltiges Zuschauerinteresse findet. Ohne Übertreibung ist der Polar heute ähnlich aufregend wie zuletzt in den Siebzigern, als Regisseure wie Yves Boisset oder Henri Verneuil aktiv waren.
Höchste Zeit also, etwas genauer hinzusehen. Die von Ivo Ritzer herausgegebene Essaysammlung POLAR - FRANZÖSISCHER KRIMINALFILM beleuchtet Gegenwart und Historie des Genres. Zwischen Georges Mélies und Gaspar Noé passt viel Filmgeschichte, und Anspruch auf Vollständigkeit kann bei einem Umfang von knapp 220 Seiten nicht erhoben werden. Dies ist auch gar nicht gewollt. Die vierzehn Autoren können also nur Schlaglichter auf die wichtigsten Epochen und Regisseure werfen. Das Ergebnis ist eine sehr kompakte Zusammenfassung, in zum Teil allerdings sehr akademischem Sprachduktus.
Bis auf Regisseur Dominik Graf kommen alle Beteiligten aus dem Wissenschaftsbetrieb. So ist es auch Grafs Text, der eine persönliche, emotionale Note einbringt. TIEFES BLAU, so der Titel seines Beitrages, ist eine Hommage an die Filme von Robin Davis, Bob Swaim und Philippe Labro. "Es sind tiefdunkle und trotzdem zarte Film, die von 1979 bis 1983 (einem ganz großen Polar-Jahr!) entstehen", schreibt Graf. "Sie sind politisch unkorrekt, realistisch inszeniert und dennoch sehnsüchtig im Ton. Sie sind nichts für heutige deutsche Filmhochschulen und ihre System-unterwürfigen Zöglinge. (...) Denn die Welt ist nicht mehr reif genug für die entwaffnende Direktheit der Filme."
Zwei Sätze zu Dominik Grafs gar nicht so seltener Autorentätigkeit an dieser Stelle: Der Filmemacher schreibt nur in Nebentätigkeit, weshalb die Sprachfertigkeit seiner Aufsätze umso mehr überraschen. Man kann seine Texte durchaus in die Tradition begnadeter Essayisten wie Sebastian Haffner oder auch Jörg Fauser stellen. Graf formuliert ungeheures Wissen mit unbändiger Hingabe, und dort, wo es sein muss, auch mit heiligem Zorn. So auch in TIEFES BLAU.
POLAR - FRANZÖSISCHER KRIMINALFILM ist eine lesenwerte Textsammlung, ein paar Gründe sich zum Kopfschütteln gibt es dennoch. So werden ausschließlich die französischen Filmtitel verwendet (sinnvoll und üblich ist es bei der ersten Nennung den deutschen Verleihtitel in einer Klammer anzufügen). Das gilt sogar für die Liste der fünfzig Filme, mit dem der Band endet. Wirklich ärgerlich ist das Fehlen eines Registers.
Übrigens: Eine ausführlichere Gesamtdarstellung des Genres bietet Hans Gerholds bereits 1989 im Fischer Verlag erschienenes Werk KINO DER BLICKE, das antiquarisch noch erhältlich ist. POLAR - FRANZÖSISCHER KRIMINALFILM kann mit seinen Aufsätzen zur jüngeren Geschichte auch als Ergänzung zu diesem Klassiker gelesen werden.
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